zum Hauptinhalt
Die Seite "werbinich" damals im Tagesspiegel 2006.

© Tsp

Das Portrait 2006 aus Berlin-Kreuzberg: Frisches Grün

Für die einen ist sie Clara, 21 Jahre alt, eine Studentin aus Kreuzberg, die Kettcar hört und Tattoos mag Für die anderen ist sie Frau Herrmann – die jüngste Politikerin im neuen Abgeordnetenhaus. Ein Porträt

Dieser Text erschien auf der Tagesspiegel-Seite "werbinich", einer Seite für junge Leute, von jungen Leuten. Im Jahr 2006 war das. Herrmann war die Jüngste im Abgeordnetenhaus. 15 Jahre und viele Karriereschritte später will sie Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg werden. Hier das erste Portrait aus dem Tagesspiegel-Archiv.
+++

Clara Herrmann zieht das kleine Mikrofon an die Lippen, dann sagt sie: „Ja, Hallo, guten Morgen.“ Es ist Donnerstag, ziemlich exakt 11.16 Uhr. Vor Clara Herrmann – sie trägt schwarze Hose, helles Jackett, Schuhe mit Absatz – sitzen 148 Abgeordnete, die Fernsehkameras senden live. Clara Herrmann muss jetzt jeden Abgeordneten alphabetisch aufrufen, um zu prüfen, ob alle erschienen sind zur ersten Sitzung des neuen Landesparlaments. Also, los geht’s: „Herr Doktor Wolfgang Albers?“ – „Ja.“

So geht das eine Weile, um 11.18 Uhr wird Clara Herrmann abgelöst. Ein anderer liest den 43. Namen vor.

„Frau Clara Herrmann?“ – „Ja.“ Anwesend.

Gestatten: Clara Herrmann, 21 Jahre alt, Studentin, wohnhaft in einer WG in Kreuzberg. Sie hat es bei den Wahlen ins Parlament geschafft und ist jetzt Berlins jüngste Abgeordnete (und deshalb musste sie auch die Namen der Älteren vorlesen, eine alte Tradition in der Politik.)

Bei einem Besuch wenige Tage vorher kannte sie fast niemand. Da fragte der alte Pförtner im Abgeordnetenhaus: „Sie meinen diese kleene Neue, wa?“ Oben, Fahrstuhl, vierter Stock.

Im vierten Stock, Raum 477, stand die kleine Neue – wie es der Pförtner zwar schnoddrig, aber durchaus treffend formuliert hat – lächelnd in der Tür.

Der Raum 477 wird die nächsten fünf Jahre ihr Arbeitsplatz sein, so lange dauert eine Wahlperiode. Der Raum ist klein, es gibt eine Luke in der Dachschräge. Der Teppichboden ist grau, der Holzschreibtisch stammt aus den 70er Jahren, und daneben steht eine Topfpflanze, die so riesig ist, dass sie erst mal festgebunden werden musste, damit sie Clara Herrmann nicht ins Gesicht piekt. Mit zwei Kolleginnen teilt sie sich das Büro. „Wir können rüber zum Potsdamer Platz gehen“, sagte sie. Der ist nur fünf Minuten entfernt.

In einem dieser Coffee-to-Go-Läden nippte Clara Herrmann am Milchkaffee. Schulsprecherin war sie nie, aber Klassensprecherin,sie hat sich früh für Greenpeace interessiert, wurde Sprecherin in der Grünen Jugend, seit 2002 ist sie Parteimitglied. Der Politik ist sie immer näher gerückt, und dann hat sie letztlich in Friedrichshain West – ihrem Wahlkreis – 14,4 Prozent bekommen.

Und im Café sagte sie nun Sätze wie: „Politiker sind auch nur Menschen.“

Und: „Die haben die Weisheit ja auch nicht mit Löffeln gefressen.“

Oder: „Politiker kochen auch nur mit Wasser.“

Vielleicht ist so ein Café am Potsdamer Platz kein guter Ort für ein Gespräch.

Also noch ein anderer Abend, diesmal an einem anderen Ort. Sie hat das „Hannibal“ in Kreuzberg vorgeschlagen, direkt am U-Bahnhof Görlitzer Park. Dort wohnt sie, das ist ihr Kiez, das sind ihre Nachbarn, ja, vielleicht auch ihre Wähler. Jung, grün, nicht so konservativ. Das Büro ist an diesem Abend weit weg, mit dem Fahrrad fährt sie eine Viertelstunde ins Abgeordnetenhaus.

Was sagt man hier, in Kreuzberg, eigentlich: Frau Herrmann oder Clara?

„Ach“, sagt sie, „ich bin Clara“.

[15 Jahre später: Im Frühjahr 2021 verkündet Herrmann, dass sie Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg werden will - das meldet der "Tagesspiegel Checkpoint"]

2006 in Kreuzberg. Foto in einer so genannten "Telefonzelle" (falls die noch jemand kennt).
2006 in Kreuzberg. Foto in einer so genannten "Telefonzelle" (falls die noch jemand kennt).

© .

Clara studiert Wirtschaftsgeographie an der Humboldt-Universität im fünften Semester. Wirtschaftsgeographie ist vielleicht nirgendwo so spannend wie in Berlin: Hier wächst die Zahl der NPD-Anhänger, hier wächst die Zahl der Ausländer. Hier leben viele Rentner und immer mehr Studenten. In Berlin wachsen der soziale Notstand und Tag für Tag die Zahl neuer Luxus-Appartements.

Berlin ist ein wunderbares Forschungsgebiet für Geographen und ein hartes Revier für die Politik. Dafür bekommen Abgeordnete in Berlin 2951 Euro im Monat, fünf Jahre lang.

„Ich bin keine Voll-Idealistin“, sagt sie und bestellt einen Vanille-Tee. Klar, sie ist Grüne und kennt die ewigen Klischees über ihre Partei, die fünf Jahre älter ist als sie selbst. Was ihre Naturliebe betrifft: Clara hat keines ihrer 500 Wahlplakate in Bäume gehängt und noch nie ein Herz in die Baumrinde geritzt. Allerdings liebt sie Akazien oder Eichen auch nicht so sehr, dass sie ständig eine umarmen müsste. „Eine Freundin hat das mal gemacht, allerdings war die betrunken.“ Clara lacht. Dabei sieht man an ihrem Schneidezahn einen Fleck, der heller ist als der normale Zahn. Ein Unfall, da war sie acht Jahre alt. Im Dänemark-Urlaub ist sie auf eine Schiene im Hafen gefallen.

Im Jahr 2011 wird wieder gewählt, dann ist sie 26 Jahre alt. Dann wird sie die Tricks der Politik kennen und den Witz, sie sei ja „noch so grün“ (haha!) oft gehört haben. Und vielleicht ist es im Jahr 2011 auch schon wieder alles vorbei. Jetzt aber, im Herbst ’06, steht sie am Anfang, da trägt sie im Büro Jackett, sagt nie „Äääh“, redet laut und bestimmend, wenn es um Politik geht. Im Abgeordnetenhaus ist sie „Frau Herrmann“.

In Kreuzberg bleibt sie Clara, da redet sie viel leiser. Da misstraut sie ihrem Personalausweis („Da steht, ich sei 1,65 Meter – ich bin aber 1,63!“), lobt die Band „Kettcar“ („Früher habe ich ernsthaft Eminem gehört“) und erzählt, wie sie sich ständig verändert. Der Ring in der Augenbraue, das kleine Tattoo am rechten Beckenknochen. „Hier, siehste“, sagt sie und zieht den gestreiften Pullover ein kleines Stück zur Seite. „Kein Arschgeweih“.

Clara Herrmann ist eine Frau, die es in Läden wie den „Magnet-Club“ zieht, die Bierflaschen mit Feuerzeugen öffnen kann und das Rauchen aufgegeben hat. Sie ist in Schöneberg aufgewachsen, im Stadtteil Friedenau. Ihr Vater ist Kampfsportlehrer, ihre Mutter Zahnärztin. Sie hat einen kleinen Bruder, Georg, 19 Jahre alt.

Und hier 2020: Clara Herrmann als Umweltstadträtin mit Gießkanne.
Und hier 2020: Clara Herrmann als Umweltstadträtin mit Gießkanne.

© picture alliance/dpa

In ihrem alten Leben hat sie als Putzfrau gearbeitet („in einem Arztzimmer“), hatte einen Hilfsjob bei den Grünen, „auf 400-Euro-Basis“. Sie erahnte das Geschäft zumindest schon. Vor sechs Wochen hat Clara Herrmann dann endgültig die Seiten gewechselt, so einfach ist das im Prinzip. Nur muss sie jetzt noch schneller erwachsen werden, obwohl das normale Tempo doch schon so hoch ist.

Am Tag der Wahl gab es auf der Fraktionsebene der Grünen Wein und Knabberzeug. Es war der 17. September, alle starrten auf den Monitor, auf dem immer mehr Details zu sehen waren. Irgendwann nach Mitternacht ist Clara ins Bett gegangen, das endgültige Ergebnis kam erst am nächsten Morgen. „Ich war baff. Und der Stress war plötzlich vorbei“, sagt sie. Der Wahlkampf auf den Straßen, auf den Kinderspielplätzen.

Da hat sie erzählt, dass sie kontinuierlich gegen Rechtsradikalismus kämpfen will und nicht immer nur dann, wenn es gerade groß in der Zeitung steht. Dass sie alternative Jugendprojekte stärken will und die Rechte von Praktikanten und Auszubildenden. Und dass sie es nicht versteht, „warum so wenig Frauen in Führungspositionen sitzen“.

Am Nebentisch schauen ein junger Typ und seine Freundin etwas irritiert, als Clara wieder sehr energisch und laut ist. „Wer is’n die?“, flüstern sie, als Clara Herrmann draußen fotografiert wird. „Die ist Abgeordnete? Wie alt ist sie denn?“ 21. „Oh.“ Das klingt nicht abwertend, sondern erstaunt.

Clara Herrmann gehört einem Literaturkreis an, bei dem Essen („Ich bin Vegetarierin“) und Wein („Aber nur weißer“) serviert werden. Sie mag besonders ein Gedicht von Joseph Beuys, darin heißt es: „Verweigere verantwortlich zu sein / tue es aus Liebe.“ Sie hält die Zeilen auf einem Blatt Papier in der Hand, das wir ihr mitgebracht haben. Sie nennt die Zeile den „wichtigsten Satz im Gedicht“, weil er so perfekt zur Politik passen würde. „Wenn ich Verantwortung übernehme, und das mache ich ja als Politikerin, dann darf das kein Zwang sein, oder?“ Okay, auch wenn das Wort „Liebe“ vielleicht etwas übertrieben ist.

Jetzt, da der Wahlkampf vorbei ist und das neue Leben beginnt, will sie das alte Leben aber nicht loslassen. Will wieder Fußball spielen, bei den „Metrostarlets“. Clara trägt die Nummer „9“, sie ist Stürmerin links vorne. Sie will auch wieder einen Freund suchen, seit einem halben Jahr ist sie solo. Und ihren „Dicken“ will sie besuchen. Der „Dicke“ hört auch auf den Namen „Diafernes“, es ist ein Pferd, das auf dem Grundstück ihrer Eltern steht. Die haben kurz nach der Wende ein altes Haus in der Uckermark gekauft, im Nordosten Brandenburgs.

In der Uckermark ist übrigens auch Angela Merkel aufgewachsen, bevor sie Bundeskanzlerin wurde. Das sagt Clara allerdings nicht. Wäre ja auch ein zu kühner Vergleich. Sie steht am Anfang. Gestern war der erste Tag als Abgeordnete.

Montag früh muss Clara Herrmann erst mal zur Uni.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false