zum Hauptinhalt

Geschichte: Der Kreuzworträtsel-Mord

Ein Junge wird tot in einem Koffer gefunden, daneben bekritzelte Zeitungen. Sie sind die einzige Spur der Volkspolizei und lösen eine beispiellose Fahndung aus. 1982 fällt das Urteil im spektakulärsten Kriminalfall der DDR.

Die Familie ist längst weggezogen. Die Windspiele und Blumentöpfe auf dem Balkon gehören den Nachmietern. Siegfried Schwarz schaut unten vom Gehweg rauf in den ersten Stock. Er war ewig nicht in der Wohnung Richard-Paulick-Straße Ecke An der Feuerwache. Wobei damals, als die Benses in dem sechsgeschossigen Klotz lebten, die Straßen von Halle-Neustadt noch gar keine Namen trugen. Da hieß das Gebäude bloß Block 483. Und die Bäume waren alle viel niedriger.

An dem Tag, an dem der siebenjährige Lars Bense verschwand, lag Schnee, sagt Siegfried Schwarz. Es war der 15. Januar 1981, am Nachmittag wollte Lars die 600 Meter von der Wohnung seiner Eltern rüber zum Stadtteilzentrum „Treff“ laufen, die Mutter hatte es erlaubt, die ältere Schwester begleitete ihn. Im Zentrum gab es ein Kino, das zeigte an diesem Tag „Däumelinchen“, den Kindertrickfilm. Lars’ Freunde warteten schon. Als der „Treff“ in Sichtweite war, verabschiedete sich der Junge von seiner Schwester. Bei den Freunden kam er nie an.

Leiter der Mordkommission Halle war damals der Schwarz, sagt Siegfried Schwarz, heute 77 Jahre alt. Schwarz spricht gerne von sich in der dritten Person, aber bei ihm klingt es nicht borniert, sondern so, als würde er über einen engen, ziemlich umtriebigen Kumpel reden. Seine Leute hätten schon am ersten Abend die Arbeit aufgenommen, obwohl da noch lange nicht klar war, ob es überhaupt ein Opfer zu beklagen und einen Täter zu jagen gab. Das war so vorgeschrieben in der DDR, sobald ein Kind verschwand. Dienstanweisung 81.81 des Ministeriums des Innern. Siegfried Schwarz hat einen alten Stadtplan von Halle-Neustadt aufbewahrt, der ist an den Rändern schon mehrfach eingerissen und droht auch in der Mitte auseinanderzufallen. Dieser Plan sei ein Zeitdokument: „Mit dem hat der Schwarz den Täter gejagt.“ Manche der auf dem Stadtplan eingezeichneten Gebäude stehen heute nicht mehr. Sie wurden abgerissen, weil sie niemand mehr brauchte, weil seit der Wende zehntausende Menschen aus Halle-Neustadt weggezogen sind.

Zwei Wochen nach dem Verschwinden von Lars Bense entdeckte ein Streckenwärter der Reichsbahn einen braunen Koffer im Gleisbett, auf halbem Weg zwischen Halle und Leipzig. Zunächst hoffte der Mann, es lägen Geldscheine darin, vielleicht auch Jeans aus dem Westen. In beiden Fällen hätte er den Fund wohl nicht gemeldet, wird er später erzählen. Tatsächlich fand er den Körper eines Jungen, eingepackt in Plastesäcke. Mit einem Stock drückte der Reichsbahner auf den Oberschenkel des Kindes. Er wollte wissen, ob da noch Leben drin war in dem Körper. War es nicht.

Die einzige Spur: Kreuzworträtsel

Bald stand fest, dass der Junge im Koffer Lars Bense ist, dass der Siebenjährige missbraucht und dann mit einem dumpfen Gegenstand erschlagen worden war. Und dass es praktisch keine Spuren gab, die zum Täter führen konnten. Außer den Kreuzworträtseln. Denn im Koffer lagen auch Zeitungen und Illustrierte: mehrere Ausgaben der „Freiheit“, der SED-Bezirkszeitung von Halle, dazu das FDJ-Blatt „Junge Welt“, das Frauenjournal „Für Dich“, auch eine „Berliner Zeitung am Abend“. Die Ermittler vermuteten, dass der Mörder Angst hatte, Blut könnte aus dem Koffer laufen, während er ihn durch die Stadt zum Bahnhof schleppen, in den Zug steigen und auf die nächste Gelegenheit warten würde, Leiche samt Koffer unbemerkt aus dem offenen Fenster zu werfen. In den Zeitungen entdeckten die Ermittler ausgefüllte Kreuzworträtsel. Sechs waren fast vollständig gelöst, bei anderen blieben die meisten Felder leer, waren jeweils nur wenige, kurze Begriffe eingetragen. Kampfplatz: Arena. Nebenfluss der Wolga: Moskwa. Tierprodukt: Ei. Stets in derselben Handschrift. Wer den Menschen findet, der hier gerätselt hat, wird auch den Mörder finden, glaubte Siegfried Schwarz. Bei der Staatsanwaltschaft, in der Mordkommission und bei den aushelfenden Schutzpolizisten firmierte der Unbekannte fortan unter dem Namen „der Schreibverursacher“.

Die Suche nach dem Schreibverursacher geriet zum aufwendigsten Ermittlungsverfahren in der Geschichte der DDR. In Halle-Neustadt, der vom Politbüro beschlossenen, auf einem Acker hochgezogenen Betonstadt, lebten 17 Jahre nach Grundsteinlegung mehr als 90 000 Menschen. Die Wohnungen waren billiger und moderner als die in der Altstadt, sie wurden mit Fernwärme beheizt. Viele Bewohner arbeiteten im Schichtbetrieb in den Chemiewerken in Leuna oder bei Buna in Schkopau, auch Lars Benses Vater.

Vielversprechend schien die Suche nach dem Unbekannten vor allem, weil dessen Handschrift leicht auffiel. Selbst ungeübte Polizisten würden die markanten Buchstaben beim Vergleichen nicht übersehen. Zum Beispiel das A in „Aas“ oder „Auge“: Es wies zwischen dem linken senkrechten Strich und dem oberen Bogen häufig eine kleine Lücke auf. Die Experten sprachen von einer „Schreibunterbrechung“, die dem „Schreibverursacher“ hier regelmäßig unterlief. Bei den Buchstaben B, D und E war es ähnlich, das Z zierte in der Mitte ein kleiner Querstrich. Kriminalpsychologen glaubten, dass die Rätsel von einer Frau mittleren Alters ausgefüllt worden waren – die schon allein körperlich kaum in der Lage gewesen wäre, den Jungen derart schwer zu verletzen. Der Schriftverursacher war also nicht der Mörder. Aber er würde ihn kennen.

Die Fahnder wollten in großem Umfang Schriftproben einholen. Sie selbst nannten es „Schreibleistungen“. Wenn sich Siegfried Schwarz heute an den Fall erinnert, sagt er lieber „Proben“. Die Volkspolizisten und freiwilligen Helfer, die damals von einer Wohnungstür zur nächsten zogen, hatten vorgedruckte Papierbögen bei sich. Sie diktierten jedem Bewohner einen Satz, der in großen Druckbuchstaben niedergeschrieben werden sollte: „Ein zweitägiges Kolloquium, das am Dienstag in Berlin begann, befasst sich mit Karl-Friedrich Schinkels Werk und dessen Bedeutung für die DDR.“ Später stellten die Ermittler das System um, erbaten nur noch einzelne Wörter, die besonders viele verräterische Buchstaben enthielten – hintereinander aufgereiht wie in einem Kreuzworträtsel.

Dame, Uta, Lehrer. Gage, Hut, Ski. Page, Raps, Cello.

Sexuellen Kindesmissbrauch konnte es im Sozialismus nicht geben

Die Teilnahme war offiziell freiwillig. Und es gab Bewohner, sie sich weigerten. In der Regel waren dies Parteifunktionäre, sagt Schwarz. „Sie fanden, sie seien ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Kraft ihrer Wassersuppe.“ Er sorgte dafür, dass auch sie eine Probe abgaben. Sich mit Menschen anzulegen, zählt unbestreitbar zu den Stärken von Siegfried Schwarz. Einmal hat er seinem Vorgesetzten gesagt, er sei ein Individualist, der Schwarz. „Das will ich nicht noch mal hören“, lautete die Antwort.

Das Einholen der Schriftproben zog sich hin. Parallel überprüften die Ermittler auch archivierte Dokumente. Bis zum Herbst wurden mehr als 250 000 Anträge für Personalausweise und 40 000 Pkw-Anmeldungen durchgesehen. Jungpioniere sammelten in den benachbarten Straßenzügen Altpapier, 60 Tonnen insgesamt, damit Ermittler diese später nach gelösten Rätseln durchsuchen konnten. Hin und wieder streuten Vorgesetzte gefälschte, der gesuchten Handschrift stark ähnelnde Funde unter. Sie wollten sichergehen, dass die Fahnder nach Monaten der monotonen, erfolglosen Suche noch aufmerksam genug arbeiteten.

Auch die Stasi mischte mit. Ministeriumsmitarbeiter durchforsteten Personalakten verschiedener Betriebe. Man kann vermuten, dass eine derart breit angelegte Datenbeschaffungs- und Suchaktion überhaupt nur in einem Staat wie der DDR mit ihrem überdimensionierten Sicherheitsapparat möglich war.

Siegfried Schwarz hoffte damals, vielleicht auch über den braunen Koffer vom Bahngleis Hinweise auf den Mörder zu erhalten. Der Koffer bestand aus Hartpappe, hatte Ecken aus Vulkanfiber. Für mehrere Wochen wurde er im Schaufenster eines kleinen Ladens ausgestellt, schräg gegenüber dem Kino, das Lars Bense am Tag seines Verschwindens besuchen wollte. Die Ermittler der Mordkommission installierten im Schaufenster eine versteckte Kamera, denn es schien möglich, dass nicht nur Zeugen davor stehen blieben, sondern auch der Täter zufällig vorbeikäme und sich dann womöglich auffällig benähme. Nichts dergleichen geschah. Vielleicht hätte der Koffer mehr Aufmerksamkeit erregt, wenn sie dazugeschrieben hätten, welche Straftat hier aufgeklärt werden sollte. Genau das aber durfte die Mordkommission nicht, und wenn sich Siegfried Schwarz drei Jahrzehnte später über die Schwierigkeiten des Falls aufregt, dann vor allem darüber.

Sexuellen Kindesmissbrauch konnte es im Sozialismus nicht geben, der galt als Krankheit des Westens, undenkbar in einer fortschrittlichen Gesellschaft. So stand auf dem Text neben dem Koffer bloß vage geschrieben, es handele sich um ein schweres Verbrechen.

Matthias S. gestand schnell

Bis in den Oktober 1981 wurden 20 000 Schriftproben eingeholt. Von den Bewohnern des Stadtteils, aber auch von solchen, die inzwischen weggezogen waren. Bei Verstorbenen, die zum Zeitpunkt des Verbrechens noch gelebt hatten, wurden die Hinterbliebenen um alte Proben gebeten. Die regionale Tageszeitung „Freiheit“ druckte ein Kreuzworträtsel und forderte ihre Leser auf, es ausgefüllt zurückzuschicken, zehn Ost-Mark wurden verlost. Wieder war die gesuchte Handschrift nicht dabei.

Während ihrer Recherchen gelang es den Fahndern nebenher, 16 unterschiedliche Straftaten aufzuklären, die alle nichts mit dem Mord verband. Bei der Überprüfung von Alibis stellten Polizisten außerdem fest, dass Angestellte der Stadtreinigung massenhaft die Benzinanzeige ihrer Dienstwagen manipuliert hatten, um so leere Tanks vorzutäuschen und die Füllungen für ihre Privatautos zu nutzen. Schwarz wurde ermahnt, er solle derartige Fälle unbedingt ignorieren.

Im November 1981 schließlich, zehn Monate nach dem Mord an Lars, erreichte die Fahnder ein Schreiben aus dem Ostseebad Dierhagen. Kollegen hatten die Schriftprobe der Kellnerin eines Strandcafés genommen, die eine kleine Wohnung in Halle-Neustadt besaß. In Block 398, keine 400 Meter Luftlinie von dem der Benses entfernt. Die Handschrift passte. In ihrer ersten Vernehmung erkannte die Frau auch ihren Koffer wieder, konnte aber beweisen, dass sie sich zur Tatzeit nicht in Halle befand. Wohl aber der 19-jährige Freund ihrer Tochter, dem sie die Wohnung überlassen hatte.

Matthias S. gestand schnell, berichtete von quälenden Tötungsfantasien, die ihn lange trieben, denen er schließlich nachgegeben hatte. Im Juni 1982 verurteilte ihn das Bezirksgericht Halle zu lebenslanger Haft und erkannte ihm die bürgerlichen Ehrenrechte ab. Ein Jahrzehnt zuvor war in der DDR ein Kindermörder noch hingerichtet worden – inzwischen aber galt dies politisch nicht mehr als opportun. Tatsächlich sollte Matthias S. nur zehn Jahre im Gefängnis bleiben, dazu einige in der Psychiatrie: Nach der Wende wurde das Verfahren neu aufgerollt, und da der Angeklagte zur Tatzeit erst 18 Jahre alt war, galt dieses Mal das Jugendstrafrecht der Bundesrepublik.

Siegfried Schwarz selbst war bei der ersten Vernehmung des Täters nicht dabei. Sondern der Kollege, der an seine Stelle getreten war, als Schwarz, wie er selbst sagt, aus der Schusslinie genommen wurde. Er hatte sich von einem Vorgesetzten falsch behandelt gefühlt und dann dessen Sekretärin eine Botschaft übermittelt: „Sagen Sie bitte dem Genossen Oberst: Er kann mich mal am Arsch lecken.“ Eine persönliche Verbindung aus dieser Zeit ist ihm trotzdem geblieben. Zur Mutter von Lars hält er bis heute Kontakt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false