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Geschichte: Der Zensus von 1987: Das Volk zählt nicht

33 Fragen soll jeder Bürger 1987 beantworten, doch Hunderttausende boykottieren den Zensus: Sie fürchten den Überwachungsstaat.

Sie sind in der Nacht gekommen. Anders als gewöhnliche Einbrecher haben sie nichts mitgenommen, sondern etwas dagelassen. „Boykottiert und sabotiert die Volkszählung“, steht in weißen Buchstaben auf dem Rasen, als der Stadionwart am 15. Mai 1987 ins Dortmunder Westfalenstadion kommt. Der Schreck ist groß. Am Abend tritt die Borussia gegen den HSV an. Es werden mehr als 40 000 Zuschauer erwartet, das Spiel soll im Fernsehen übertragen werden – aber nicht mit diesem aufrührerischen Schriftzug. Ein Mitarbeiter aus der Stadtverwaltung hat den rettenden Einfall: Er schlägt vor, den Spruch um drei Wörter zu ergänzen. Einen Anruf im Bundespräsidialamt später, Richard von Weizsäcker muss zustimmen, greifen die Verantwortlichen selbst zur Sprühdose. Als die Zuschauer ins Stadion kommen, finden sie eine Nachricht vom Staatsoberhaupt vor. „Der Bundespräsident: Boykottiert und sabotiert die Volkszählung nicht“, steht nun auf dem Rasen. Dieses Ereignis steht sinnbildlich für die Volkszählung von 1987 – die fünfte und bis heute letzte Totalerhebung in der Bundesrepublik. Alle Bürger sollen Auskunft geben, unter anderem darüber, wann sie geboren sind, wo sie wohnen, wie viel Miete sie zahlen. Andernfalls droht eine Geldstrafe. Die Fragebögen werden ab dem 25. Mai persönlich an der Haustür übergeben und sollen 15 Tage später den bundesweit 6000 Erhebungsstellen ausgefüllt vorliegen. Doch schon die Wochen davor sind von einem Kräftemessen zwischen Staat und Bürgern geprägt. Nie in der Geschichte der Bundesrepublik ist ein Boykottaufruf auf so breite Zustimmung gestoßen. Unter den Zensusgegnern finden sich Grüne und FDP-Mitglieder, Anarchisten und Bürgerliche. Viele haben sich bereits in anderen Protestbewegungen engagiert, haben gegen den Nato-Doppelbeschluss, das Atomkraftwerk Brokdorf oder in Frankfurt gegen die Startbahn West demonstriert. 1971 war der Zensus noch klaglos hingenommen worden. Aber in den 80ern ist die Welt eine andere. Die Computer haben begonnen, sich ihren Platz in Büros und Wohnzimmern zu erobern, und damit ist die Volkszählung untrennbar mit der Frage nach Datenschutz verbunden. Ursprünglich soll der Zensus schon 1981 stattfinden, doch Bund und Länder können sich nicht auf die Finanzierung einigen. Als sie schließlich übereinkommen, reichen etliche Bürger Verfassungsbeschwerde ein, darunter Klaus Brunnstein. „Das Orwell-Jahr 1984 stand kurz bevor, die Angst vor einem Überwachungsstaat war groß“, sagt der Physiker.

Brunnstein ist damals FDP-Landeschef in Hamburg und Vertreter des zu dieser Zeit noch starken Bürgerrechtsflügels der Partei. Ende

der 60er hat er den Informatik-Studiengang in Hamburg mitgegründet, 1973 wurde er Professor, einige Jahre später hielt er erste Datenschutz-Vorlesungen. „Eine Frage war, wie sich eine zunehmende Vernetzung von Rechnern auf die Sicherheit der Computerinhalte auswirken würde“, sagt Brunnstein. Dass die Möglichkeiten seines Faches auch Gefahren bergen, ist ihm schon damals bewusst. Dem Verfassungsgericht offenbar auch. Im April 1983 stoppt es den Zensus durch eine einstweilige Anordnung, im Dezember legt es mit einem 76-seitigen Urteil nach. Einwände gegen eine Volkszählung an sich enthält es nicht, aber gegen die geplante Durchführung: So sollen die erhobenen Daten zwecks Aktualisierung der Melderegister an die Verwaltung zurückgegeben werden. Das kritisieren die Richter, verweisen auf das „Recht zur informationellen Selbstbestimmung“: Dass Menschen keine Kenntnis darüber hätten, „wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß“, dürfe nicht sein. Der Bürger müsse in der Lage sein, „selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“. Auf dieses Urteil, das als Geburtsstunde des Datenschutzes gilt, stützen sich die Protestler 1987. Doch die Politiker haben reagiert und präsentieren ein juristisch einwandfreies Vorgehen: Der Melderegisterabgleich ist verboten, die Erhebungsstellen, welche die Bögen auswerten, werden aus der Verwaltung ausgelagert. Keiner, der sonst über das Wohngeld eines Menschen befindet, soll durch den Zensus dessen Religionszugehörigkeit kennen. Auf diese zielt die vierte Frage auf den weiß-blauen Bögen ab. Die anderen 32 Fragen wirken angesichts des digitalen Striptease, den viele heute etwa bei Facebook hinlegen, eher harmlos. Es geht um Wohnsituation, Ausbildung und Beruf sowie Verkehrsmittelnutzung (siehe Kasten). Die Politiker sagen, sie bräuchten die Antworten als Grundlage für die Sozialplanung – sei es, um Busse an den richtigen Orten einzusetzen oder Wohnungen dort zu bauen, wo man sie benötigt. Auch der Länderfinanzausgleich beruht auf Einwohnerzahlen. In dem Buch „Was Sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können“, von dem sich bis März 1987 130 000 Exemplare verkaufen, werden der Obrigkeit dagegen unlautere Ansichten unterstellt: „Die Verdatung bildet die materielle Grundlage für eine totale soziale Kontrolle. Wer die Lebensbedingungen eines Menschen genau kennt, für den ist es leichter, sie zu steuern.“ Außerdem warnen die Autoren davor, dass der Zensus ans Licht bringen könnte, „ob Sie vielleicht Ihr Auto bei Verwandten auf dem Land angemeldet haben, weil Sie dafür eine billigere Fahrzeugversicherung bekommen.“ Der „Spiegel“ weist darauf hin, dass die Volkszählung eines garantiert liefere: „eine lückenlose, keineswegs anonyme Auflistung sämtlicher westdeutscher Volkszählungsgegner“. Erstmals in der Geschichte der Menschheit werde ein Staat damit „über die perfekte Dissidenten-Kartei verfügen“. Dem negativen Eindruck versucht der Staat mit einer 46 Millionen Mark teuren Werbekampagne entgegenzusteuern. „Was Sie lieben, denken oder wählen, geht uns nichts an“, steht in einer Zeitungsanzeige, „Zehn Minuten, die allen helfen“, lautet der Zensus-Slogan. „Zehn Minuten, die Sie noch bereuen werden“, kontern die Gegner, die sich bundesweit in 1500 Volkszählungsboykott-Initiativen – kurz: VoBo-Inis – zusammenfinden. In Fulda verbreiten sie einen Boykottaufruf auf gefälschtem Behördenpapier, in Berlin bekleben sie die Mauer mit Erhebungsbögen. Nicht immer bleiben die Proteste spielerisch: In der Leverkusener Meldestelle landet ein Sprengsatz. Als die Stimmung besonders aufgeheizt ist, wird Helmut Eppmann, damals Projektleiter für die Volkszählung in Nordrhein-Westfalen, sogar als Nazi beschimpft. Ihr habt doch was Schreckliches vor, wenn ihr abfragt, wer Jude ist, schleudert man ihm entgegen. „Dass der Zentralrat der Juden sich selbst dafür ausgesprochen hatte, die Zahl zu ermitteln, wollte niemand hören“, sagt Eppmann heute. In seiner Stammkneipe, voll mit Zensus-Gegnern, muss er sich abends für das rechtfertigen, was er tagsüber tut. „Als Insider wusste ich, dass nichts Unrechtes mit den Daten passiert.“ Weil das sonst kaum einer glaubt, muss Eppmann die 17 Regalkilometer, in denen die Erfassungsbögen für Nordrhein-Westfalen gelagert werden, wie im Hochsicherheitstrakt unterbringen: ein eigenes Gebäude, umgeben von hohen Zäunen, regelmäßige Wachschutzpatrouille mit Schäferhunden inbegriffen. Zeitgleich stellt man 800 Personen ein, welche die Bögen auswerten sollen. „Es war eine intensive Vorbereitungszeit“, sagt Eppmann. Roland Appel ist ähnlich beschäftigt, doch arbeitet er in Nordrhein-Westfalen nicht für, sondern gegen die Zählung und organisiert den Protest unter den grünen Parlamentariern. Als ein Zensus-Werbeplakat vor dem Bundespresseamt mit dem Spruch „Nur Schafe lassen sich zählen“ überpinselt wird, ist er dabei. „Das hatte auch etwas von einem Räuber-und-Gendarm-Spiel“, sagt er. Doch bewegt Appel ein ernsthaftes Anliegen. „Wenn es tatsächlich darum gegangen wäre, Bedürfnisse der Bürger abzufragen, hätte man sie durch Bürgerentscheide einbinden können. Der Zensus war Ausdruck eines autoritären Regierungsstils.“ Deshalb ruft Appel dazu auf, die Bögen nicht in den Erhebungsstellen, sondern in den VoBo-Büros abzugeben – am besten mit abgeschnittener Kennzahl, damit die Boykotteure nicht mehr zu identifizieren sind, wenn die Polizei zu Durchsuchungen anrückt. Und das tut sie wirklich. Frühmorgens am 1. Mai halten zehn Polizeiwagen vor dem Mehringhof in Berlin-Kreuzberg. Die Beamten brechen die Tür zum VoBo- Büro auf, mit Boykott-Plakaten und Broschüren ziehen sie wieder ab. Kurz darauf setzt Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann für die Suche nach Boykottaufrufen die Einrichtung von Straßenkontrollen durch. Dass der Staat zu so drastischen Maßnahmen greift, zeigt, dass er eine Niederlage fürchtet. Kein Wunder, allein die Suche nach den 600 000 Zählern, welche die Bögen in den rund 25 Millionen deutschen Haushalten abgeben sollen, läuft stockend. Die Helfer können zwar auch zwangsweise verpflichtet werden, doch gerade viele Frauen widersetzen sich. Sie wollen nicht allein in fremde Wohnungen gehen. Berlins Innensenator Wilhelm Kewenig versucht, sie zu überzeugen, indem er sagt, der „weibliche Charme“ werde ihnen bei der Arbeit zugutekommen. Als es am 25. Mai losgeht, beschließt Kewenig, wegen des Mangels an Zählern selbst von Haus zu Haus zu ziehen. Einige Tage später verkünden die Boykotteure, dass bereits 552 000 Fragebögen in den VoBo-Büros entsorgt worden seien. Manche Richter stufen das Abschneiden der Kennnummern als Sachbeschädigung ein. Viele Bürger entscheiden sich deshalb für den weichen Boykott: Sie geben die Bögen ab, machen aber falsche Angaben. „Meine Nachbarn haben ihre Katze als Mitbewohnerin aufgeführt“, sagt Reinhard Schrutzki vom Chaos Computer Club. Er selbst geht damals, wie er sagt, auf „Deutschland-Tour“ und gibt Menschen in München, Frankfurt und Köln Tipps, „wie man kreativ mit den Bögen umgehen kann“. Etwa die oberste Zeile wegschneiden, eine maschinelle Auswertung ist dann unmöglich. Schrutzki selbst gibt seine Bögen nicht ab. In seiner Heimat Hamburg kostet das 250 Mark Zwangsgeld, die Obergrenze ist bundesweit auf 2000 Mark festgelegt. Schrutzki muss nie einen Pfennig zahlen – ein Hinweis darauf, dass so viele Menschen ihre Bögen behalten haben, dass man sie nicht alle strafrechtlich verfolgen konnte. Und dann ist es mit dem Zensus plötzlich wie sonst nur zu Weihnachten: Wochenlang redet man über das Ereignis, ist aufgeregt, bereitet vor, und dann ist es schon wieder vorbei. Dafür dauert die Verarbeitung der Daten umso länger. Erst nach 18 Monaten verkündet Egon Hölder, Präsident des Statistischen Bundesamts, die Ergebnisse: Die Bundesrepublik hat 61,08 Millionen Einwohner, 76 700 weniger als erwartet. Einzelne Länder erleben finanzielle Einbußen. Schleswig-Holstein etwa verliert 100 Millionen Mark aus dem Länderfinanzausgleich. Außerdem gibt es im Bundesgebiet eine Million Wohnungen weniger als gedacht. In Hessen starten bald darauf Wohnungsbauprogramme. Von den Zahlen können die zwei gegnerischen Lager auch später nicht lassen. Staat und Protestler benutzen sie, um zu belegen, dass sie als Sieger hervorgingen. Die Zensus-Gegner loben die hohen Boykottzahlen in großen Städten. In Köln etwa sollen es mindestens 15 Prozent gewesen sein. Egon Hölder dagegen sagt, die Nichtteilnehmerquote insgesamt habe unter einem Prozent gelegen, die Volkszählung sei also ein Erfolg gewesen. Ganz stimmt das wohl nicht: Immerhin lässt man bis zur nächsten Landesinventur 24 Jahre vergehen. 2011 gibt es einen registergestützten Zensus, bei dem nur zehn Prozent der Bürger sowie alle Immobilienbesitzer befragt werden. Mit 25 Jahren Abstand können Roland Appel und Helmut Eppmann über manches Ereignis von 1987 lachen. Dennoch bleiben sie ihren Überzeugungen treu. Appel sagt, er habe, als er später für die Grünen im Landtag saß, nie erlebt, dass eine Entscheidung auf Grundlage der Volkszählung getroffen worden sei. Eppmann dagegen wendet ein: „Warum sollte der Staat so viel Geld ausgeben, wenn er die Ergebnisse nicht berücksichtigt?“ Tatsächlich sind die Kosten mit einer Milliarde Mark hoch. Und man kann sich nicht einmal lange an den teuer erkauften Ergebnissen freuen. 1990 kommt die Wiedervereinigung, und damit warten mit einem Mal ganz andere Planungsaufgaben.

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