zum Hauptinhalt

Geschichte: Die Köpfe der Maori

Neuseelands Ureinwohner bewahrten die Schädel ihrer Vorfahren zur Erinnerung auf. Koloniale Seefahrer verschleppten viele davon. Nun wird über die Rückgabe gestritten.

Ein paar weiße Unterhosen, mehr ist ihm der abgetrennte Kopf eines jungen Mannes nicht wert. Seit mehr als 16 Monaten segelt der 25-jährige Joseph Banks – Millionenerbe, Botaniker aus Leidenschaft und später eine Art englischer Alexander von Humboldt –, nun schon mit auf der Endeavour. Deren Kapitän James Cook ist mit seiner Crew im Auftrag Ihrer Majestät auf der Suche nach Terra Australis Incognita, dem unbekannten südlichen Kontinent. Sie hoffen, dort Rohstoffe zu finden – jetzt erkunden sie zunächst Neuseeland, wo sie Informationen über Land und Leute sammeln.

Eines Tages erfahren sie, dass die Ureinwohner ihre Feinde verspeisen sollen. Als die Europäer gerade am Queen Charlotte Sound ankern, verlangt Banks einen Beweis dafür, und so stehen am 20. Januar 1770 plötzlich einige Maori vor ihm – mit sich führen sie vier abgetrennte Köpfe. Ein Maori will sie verkaufen, es kommt kurz zum Streit, Banks zückt seine Flinte. Dann wird man sich doch noch handelseinig: Ein einzelner Kopf wird gegen ein paar weiße Unterhosen aus Leinen eingetauscht. Der Kopf „schien zu einer Person von etwa 14 oder 15 Jahren gehört zu haben“, notiert der Engländer in sein Tagebuch. „Und offenbar hat er, den Quetschungen an der Seite nach zu urteilen, heftige Schläge erlitten, die einen Teil seines Schädels nahe des Auges wegrissen.“

Was die Köpfe so besonders machte, waren ihre aufwendigen Tätowierungen. Das Verzieren der Körper und Gesichter hat bei den Polynesiern eine lange Tradition. Die Ornamente erinnern an geschlungene Pflanzen, manche an Flammen. Mit einem Meißel aus Tierknochen ritzten die Menschen früher die Haut auf und klopften dann mit einem weiteren Werkzeug Tinte, zum Beispiel bestehend aus Ruß und Fischöl, in die Haut. Eine schmerzhafte Prozedur, die den Träger eines Moko, eines Tattoos, für immer veränderte – nicht nur äußerlich. Es war auch ein Symbol für innere Kraft und Stärke. Der lebenslange Körperschmuck ist zugleich eine Art Visitenkarte: Jede geschwungene Linie, jede Form repräsentiert das Leben seines Trägers. Zeigt, woher er kommt, zu welchem Stamm er gehört und welche Fähigkeiten er besitzt.

Es waren vor allem Häuptlinge und besondere Persönlichkeiten, die eine Gesichtstätowierung, ein Ta Moko, trugen. Da sie von ihrer Gemeinschaft sehr verehrt wurden, bewahrte man ihre Köpfe nach dem Tod auf und präparierte sie. Zu besonderen Anlässen holten die Leute diese, nun Toi Moko genannten Köpfe wieder hervor. „Sie hatten für die Familien wohl eine ähnliche Bedeutung wie heute ein Foto des Verstorbenen“, sagt Te Herekiekie Herewini, Maori-Experte im Te Papa Museum in Wellington.

Es gab aber neben der Ehrerbietung für einen geliebten Angehörigen noch einen zweiten Grund, die Köpfe zu behalten: Sie dienten als Trophäe, um den Feind lächerlich zu machen. Wenn sich Maori-Stämme bekriegten, war keine Schmach größer, als den Kopf eines Häuptlings beim Gegner zu wissen.

Die Europäer interessierten sich bald sehr für die Toi Moko. Zwar fanden sie auch Gefallen an den Holzschnitzereien, gewebten Decken und an der Kleidung der Maori, doch die Köpfe wurden – so makaber es klingen mag – zum Exportschlager. Museen in Europa, medizinische Institute und private Sammler, sie alle wollten ein Exemplar besitzen.

Der Handel ging selbst dann weiter, als ihn Gouverneur Ralph Darling 1831 verbot. Anfangs soll ein Toi Moko für nur einen einzigen Nagel eingetauscht worden sein, bald interessierten die Maori sich aber auch für die Waffen der Europäer. Bestand ein Mangel an Ware, köpften die Einheimischen einfach ihre Sklaven – und hatten diese noch keine Gesichtstätowierung, wurde sie ihnen eingeritzt, bevor man sie tötete. Manche ließen sogar post mortem Tattoos anfertigen.

Einer der bekanntesten Toi-MokoSammler war der britische Soldat Horatio Gordon Robley, der als 24-Jähriger nach Neuseeland kam. Von 1864 bis 1866 war er dort stationiert, hatte einen Sohn mit einer Maori. In seiner Freizeit fertigte Robley viele Farbskizzen an, auch von geköpften Einheimischen. Am Ende verfügte er über die größte Sammlung – zeitweise sollen es bis zu 40 Toi Moko gewesen sein. Ein Foto zeigt ihn, wie er vor einer Wand mit Köpfen posiert. Der Brite sah sich als Beschützer dieser Kultur und schrieb zwei Bücher über die Maori, in einem erklärte er detailliert den Mumifizierungsprozess: Dabei wurde zunächst das Hirn entnommen, dann der Kopf mehrfach im Ofen gedämpft, in der Sonne getrocknet, geräuchert, und schließlich wurden die Augen entfernt und die Lider zugenäht.

Hunderte Toi Moko gelangten in die ganze Welt – nach Australien, Argentinien, Deutschland oder in die USA. Viele wurden öffentlich ausgestellt. Im Europa des 19. Jahrhunderts erforschten Ärzte und Wissenschaftler zudem die Anatomie verschiedener Rassen, so gelangten neben den mumifizierten Köpfen auch Koiwi Tangata, andere menschliche Überreste (etwa Gebeine) in ihre Institute. Mittlerweile sind die meisten Exemplare in den Archiven verschwunden.

„Heute befinden sich noch 575 Toi Moko und Koiwi Tangata in Europa und Amerika“, sagt Herewini vom Te Papa Museum. Der Neuseeländer mit Maori-Wurzeln kümmert sich um die Rückführung seiner Vorfahren. Schon seit den 80er Jahren ist Neuseeland mit Institutionen auf der ganzen Welt in Kontakt, um die sterblichen Überreste wieder in die Heimat zu bringen.

206 menschliche Überreste haben Herewini und sein „Repatriation Team“ bereits nach Hause geholt. Es ist ein heikles Thema, denn die ausländischen Museen sind nicht erpicht darauf, ihre Exponate abzugeben. Was kommt dann als Nächstes?, fragen sie. Die Neuseeländer gehen deshalb behutsam vor. Außerdem mögen sie moralisch im Recht sein, einen juristischen Anspruch gibt es nicht. Zunächst stellt das Team eine Anfrage, oft dauert es dann einige Monate oder sogar Jahre, bis eine Entscheidung fällt. In Frankreich zum Beispiel musste das Parlament zunächst ein neues Gesetz erlassen, um eine Rückführung zu ermöglichen. 2011 gab das Naturkundemuseum von Rouen sein Toi Moko zurück. Es soll sich um den Kopf eines Maori-Kriegers handeln, den ein Pariser 1875 dem Haus übergab.

Bei einer Europareise gelang es Herewinis Team, gleich mehrere Exemplare zu bekommen. Im Mai 2011 wurden die Ahnen mit einer großen Willkommenszeremonie im Te Papa Museum begrüßt. Eingeladen waren auch einige Nachfahren. Zumindest von den Ahnen, die die Experten einem Stamm zuordnen konnten.

Oft gelingt das nicht. Über 100 nicht identifizierte menschliche Überreste befinden sich derzeit in einem geschützten Raum des Museums, den nur wenige betreten dürfen. Ein DNA-Test könnte helfen, mögliche Verwandtschaften auszumachen. Doch Maori glauben, dass alle Dinge eine Seele haben – Holzschnitzereien ebenso wie Toi Moko. Ihnen ein Stück für eine DNA-Analyse zu entnehmen, würde bedeuten, die Vorfahren zu verletzen.

Auch heute noch tragen Maori ein Ta Moko, ein Gesichtstattoo. Joe Harawira etwa. Der 56-Jährige ist in seiner Heimat ein bekannter Geschichtenerzähler und Kulturbotschafter. Sein Ta Moko hat zwölf Elemente. Wer die Zeichen lesen kann, erkennt sofort, dass er aus Whakatane kommt, Verbindungen zu Stämmen wie Ngati Maniapoto hat und dass er ein Mann des Wortes ist. „Meine Leidenschaft fürs Erzählen sehen Sie auf der Stirn“, sagte er am Rande des internationalen Literaturfestivals in Berlin, wo er in der „Langen Nacht der Maori-Literatur“ eindrucksvoll Maori-Legenden vortrug. Über viele Jahrhunderte trugen Maori, die seit dem 13. Jahrhundert in mehreren Einwanderungswellen auf Wakas, großen Kanus, Neuseeland besiedelten, ihre Geschichten nur mündlich weiter.

Die Europäer führten die Schrift ein. Mit den späteren britischen Kolonialherren kamen auch Krankheiten, die die indigene Bevölkerung stark verringerten, sowie Tausende neue Siedler, die die Maori zunehmend verdrängten. Zwar lebten Europäer und Maori auch friedlich nebeneinander, nach und nach verloren viele Maori jedoch ihre kulturellen Wurzeln. Bis in die 1980er Jahre assoziierten die Neuseeländer Ta Moko entweder mit etwas längst Vergangenem oder mit gewalttätigen Gang-Mitgliedern und armen Maori. Mittlerweile helfen Programme und Institutionen, die Rechte der Ureinwohner zu stärken und deren Kultur zu fördern. Derzeit sind noch 15 Prozent der Bevölkerung Maori.

Seit einer Generation gibt es nun auch ein Aufleben der alten Tätowierkunst – inzwischen tragen viele junge Maori wieder mit Stolz ein Moko am Körper. Eine Gesichtstätowierung allerdings ist selten, und man kann sie sich nicht einfach so zulegen. Die Gemeinschaft entscheidet, wer würdig ist, ein solches Zeichen zu tragen. Harawira fühlte sich geehrt, dass er ausgewählt wurde, seine Frau war anfangs dagegen. Seit vier Jahren trägt er nun sein Ta Moko und nutzt dies auch für seine Kulturarbeit. Er engagiert sich ebenfalls für die Rückführung der Toi Moko. Als im Januar dieses Jahres 20 weitere aus Museen in Frankreich zusammengetragen wurden, reiste er mit. „Ich war quasi das lebende Beispiel“, sagt er.

Auch in Deutschland befinden sich derzeit noch 48 menschliche Überreste. Zwei Toi Moko liegen im Magazin des Ethnologischen Museums in Berlin. 1878 und 1905 kaufte das Haus sie in England. Um wen es sich bei den Maori handelt, weiß man nicht. Bis in die 80er Jahre wurden sie noch öffentlich gezeigt. „Als ich dann die neue Südsee-Dauerausstellung im Haus gestaltete, nahm ich sie heraus“, sagt Kurator Markus Schindlbeck.

Bisher wurden die Berliner nicht um eine Rückführung der Toi Moko gebeten. „Ich habe die Te-Papa-Mitarbeiter selbst darüber informiert, was wir alles im Museum besitzen“, sagt Schindlbeck. Die Frage nach der Rückgabe ist auch für ihn kompliziert. Manchmal seien Exponate zurückgeführt worden, etwa nach Hawaii, und waren dann plötzlich verschwunden. Somit seien sie nun für immer verloren. „In Ozeanien haben Knochen eine ganz andere Bedeutung als bei uns, auch der Schädelkult ist Teil der Kultur. Wenn wir alles zurückgeben, was Knochen enthält, können wir hier die entsprechenden Kulturen nicht mehr angemessen repräsentieren“, so Schindlbeck.

Der Ethnologe sagt, er würde heute keine Toi Moko mehr ausstellen. Seine Kollegen im Mannheimer Reiss Engelhorn Museum sehen das offenbar anders. Bis April präsentierten sie im Rahmen der „Schädelkult“-Ausstellung den tätowierten Kopf eines Maori, der angeblich von James Cooks erster Reise stammen soll.

Dass die Rückführung eines Toi Moko durchaus positive Effekte haben kann, zeigt das niederländische Volkenkunde Museum in Leiden. 2007 gab das Haus sein Exponat nach einer Anfrage zurück. Seitdem pflegt es eine enge Zusammenarbeit mit den neuseeländischen Partnern. Bootsbauer schnitzten für eine Maori-Sonderausstellung in Leiden sogar ein besonderes Waka. Beim diesjährigen Frankfurter Museumsuferfest schipperte das Kanu mit dem neuseeländischen Botschafter und dem Oberbürgermeister über den Main.

Nachdem die menschlichen Überreste der Vorfahren im Te Papa Museum empfangen wurden, übergibt das Haus sie an die Nachfahren. „Die Stämme entscheiden selbst, ob sie den Verwandten beerdigen oder aufbewahren wollen“, erzählt Rückführungsexperte Herewini. Erst vor einer Woche luden ihn Stämme am Lake Taupo ein, an einer traditionellen Beerdigung teilzunehmen. Rund 100 Angehörige waren anwesend. „Die Zeremonie wird genauso durchgeführt, als wäre der Vorfahre gerade erst gestorben“, sagt Herewini. Gemeinsam mit den Verwandten und dem Toten übernachtete er im Versammlungshaus, dem Marae.

Die Maori glauben, dass eine Seele etwa drei Tage braucht, bis sie über die nördliche Spitze Neuseelands in das mystische Urprungsland Hawaiki gelangt. Zumindest die Seelen einiger Toter haben dort nun wohl ihren Frieden gefunden.

Zur Startseite