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Panorama: Gesunder Pessimismus

Ergebnisse einer Langzeitstudie legen nahe: Ältere, die ihre Zukunft eher grau in grau sehen, haben gute Chancen, länger zu leben.

Berlin - Ein Pessimist sei eigentlich nichts anderes als ein Optimist, der nachgedacht hat, so kann man immer wieder hören. Nun legt eine Studie, die gerade in der Fachzeitschrift „Psychology and Aging“ erschienen ist, nahe, dass das Ergebnis dieses Nachdenkens sich auch in einem längeren Leben niederschlägt. Forscher der Uni Erlangen-Nürnberg haben dafür in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und verschiedenen anderen Institutionen Daten der Langzeitstudie Sozioökonomisches Panel genutzt: 1500 Bürger zwischen 18 und 96 Jahren hatten zwischen 1993 und 2004 Jahr für Jahr Auskunft darüber gegeben, wie zufrieden sie gerade mit ihrem Leben waren und wie zufrieden sie – ihrer gegenwärtigen Einschätzung zufolge – in fünf Jahren sein würden.

Erwartungsgemäß gab es bei der aktuellen Zufriedenheit keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Generationen. Die Wissenschaftler machten sich aber im Lauf der Jahre auch sechs Mal die Mühe, die Eigenvorhersage der Teilnehmer von vor fünf Jahren mit ihrer aktuellen Zufriedenheit zu vergleichen. Dabei kam zunächst heraus, was nicht weiter erstaunt: Junge Erwachsene sehen ihre Zukunft meist etwas zu rosig, Menschen zwischen 40 und 64 Jahren sind in dieser Hinsicht recht realistisch, Senioren neigen dazu, die zukünftige Lebenszufriedenheit zu schlecht einzuschätzen.

Erstaunlicher ist der Hauptbefund der Studie, in der nebenbei auch das tatsächliche gesundheitliche Schicksal der Teilnehmer erfasst wurde: Ältere Menschen, die eher eine pessimistische Prognose ihres Wohlbefindens und ihrer Lebenszufriedenheit in einigen Jahren abgeben, leben länger als Gleichaltrige, die die Zukunft besser sehen, und sie haben weniger unter gravierenden Einschränkungen zu leiden. „Möglicherweise ermuntert eine etwas bescheidenere, demütigere Sicht der zukünftigen Lebenszufriedenheit die Senioren dazu, noch besser auf ihre eigene Gesundheit zu achten“, sagte Frieder R. Lang von der Universität Erlangen-Nürnberg dem Tagesspiegel. „Vielleicht sind Ältere aber auch deshalb so lange mit ihrer aktuellen Situation zufrieden, weil sie erwarten, dass es in fünf Jahren nur schlechter sein kann.“

Lang und seine Kollegen waren erstaunt, dass die pessimistischsten Senioren die mit der stabilsten Gesundheit und dem höchsten Einkommen waren; also diejenigen, die am meisten zu verlieren haben. Sind sie vielleicht im Leben deshalb weit gekommen, weil sie schon seit jeher eher ängstlich und besorgt waren? „Wir wissen noch nicht, ob eine defensiv pessimistische Zukunftserwartung auch für die Lebensperspektive jüngerer Erwachsene hilfreich sein könnte“, sagt Lang. Dem wolle man nun nachgehen.

In einer Gesellschaft, die flächendeckend Optimismus und Selbstoptimierung verordne, werde der wertvolle Beitrag von Angst, Zaudern und Bedenken oft unterbewertet, findet der Psychotherapeut und Arzt Arnold Retzer, der an der Uni Heidelberg lehrt. „Angst ist ein Verbesserungsvorschlag“, schreibt er in seinem Buch „Miese Stimmung. Eine Streitschrift gegen positives Denken“. Und weiter: „In der Evolution des Menschen sind die allzu Furchtlosen und Angstfreien, die vor keiner Gefahr zurückgeschreckt sind, schon lange ausgestorben.“ Ein Plädoyer für die gesellschaftliche Aufwertung der umsichtigen Besorgnis, das einiges für sich hat. Dass der pessimistische Blick auf die eigene Befindlichkeit in der Zukunft das Leben verlängert, wird weder von Retzer noch von der neuen Studie bewiesen: Schließlich wurden nur statistische Zusammenhänge ermittelt, keine Kausalbeziehungen.

Und die Befunde passen, zumindest auf den ersten Blick, nicht so recht zu den Ergebnissen früherer Untersuchungen, die für die Schlagzeile sorgten: Optimisten leben länger. So hat eine Auswertung der Daten von mehr als 100 000 Frauen zwischen 50 und 79 Jahren, die für die amerikanische Women’s Health Study untersucht wurden, im Jahr 2010 ergeben: Von den Teilnehmerinnen, die Sätze unterschrieben wie „In schwierigen Zeiten erwarte ich meist das Beste“, lebten acht Jahre später deutlich mehr als von Pessimistinnen, die tendenziell damit rechnen, dass alles schiefgeht.

Im Unterschied zur aktuellen deutschen Studie war hier mehr nach der allgemeinen Lebenseinstellung als nach der persönlichen Prognose gefragt worden. Der vermeintliche Widerspruch lässt sich also auflösen, wenn man bedenkt, dass Menschen gleichzeitig Pessimisten und Optimisten sein können, wenn auch in unterschiedlicher Hinsicht: Auch wer die eigene Lebensperspektive in düsterem Licht sieht, ist möglicherweise zuversichtlich, was die Zukunft der Welt und die Entwicklung der Menschheit betrifft. Diese Gelassenheit wiederum könnte seiner eigenen Gesundheit zugute kommen. Adelheid Müller-Lissner

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