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Panorama: „Gnade uns Gott“

Noch immer wird Italien von anhaltenden Beben heimgesucht – in den betroffenen Gebieten verbringt die Bevölkerung die Nächte im Freien

Von Thomas Migge,

San Giuliano di Puglia

Marco Tritella schaut besorgt auf den Wasserspiegel. „Schauen Sie wie groß sie ist, unsere Talsperre“, sagt er, „die größte ganz Europas“. Tritella wohnt in San Giuliano. Ein kleiner Ort in der süditalienischen Region Molise, wo Donnerstag mittag um 11.32 Uhr die Erde so stark bebte, dass 29 Menschen starben. 26 davon sind Kinder. Sie wurden unter den Zementmassen des Daches ihrer Schule begraben.

Tritella ist Angestellter der Talsperrengesellschaft. Er weiß, wovon er redet. Und er weiss, dass ein Bruch der Talsperre, der sich bei der Ortschaft Occhito befindet, keine zwölf Kilometer von San Giuliano entfernt, verheerende Folgen haben könnte. „Wenn sich diese 36 Millionen Kubikmeter Wasser ins Tal ergießen“, sagt er, „dann würden dutzende von Ortschaften auf einen Schlag zerstört“. Noch befürchten Tritella und seine Kollegen keinen Talsperrenbruch. Noch haben sie keine Risse im Zement entdeckt. Doch wenn erneut die Erde so bebt wie am Donnerstag, mit 5,4 Grad auf der Richter-Skala, dann, so Tritella, „Gnade uns Gott“.

Um Gottes Gnade betet ganz Italien. Und ganz Italien trauerte am Samstag um die 29 Todesopfer des Erdbebens in der Region Molise. Die Regierung in Rom ordnete an, im ganzen Land über das Wochenende die italienischen und europäischen Flaggen auf Halbmast zu setzen. Staatspräsident Ciampi will an den für Sonntag angesetzten Begräbnisfeierlichkeiten in San Giuliano di Puglia teilnehmen. In dem Dorf sind alle Opfer zu beklagen, unter ihnen 26 Kinder der eingestürzten Dorfschule. Das Erdbeben hatte am Donnerstag in der rund 200 Kilometer südöstlich von Rom gelegenen Region auch viele Häuser zerstört, am Freitag folgte ein weiteres heftiges Beben. Weil die Beben nicht aufhören, verbringen viele Menschen die Nächte im Freien. Auch am Samstag kam es zu zahlreichen Nachbeben.

24 Stunden nach dem ersten großen Beben wurde der siebenjährige Angelo lebend aus den Trümmern der eingestürzten Schule gezogen. Er hatte sich mit Singen wach gehalten. Seine Beine sind mehrfach gebrochen. Die Staatsanwaltschaft nahm am Samstag in San Giuliano Ermittlungen auf, um zu klären, warum die Dorfschule eingestürzt ist.

In einem ersten Eindruck am Ort sprach Staatsanwalt Andrea Cataldi Tassone von einem „abnormalen Zusammensturz“. Man wolle die Verantwortlichen herausfinden. „Der Verdacht lautet auf mehrfache fahrlässige Tötung“, fügte er hinzu. Bereits am Freitag hatte Cataldi Tassone die eingestürzte Schule sichern lassen, damit sie von Experten untersucht werden kann.

Medienberichten zufolge wird vermutet, dass das 1953 errichtete und vor wenigen Jahren ausgebaute Gebäude eklatante Baumängel aufwies. Bei einem Umbau seien Stahlbetonträger auf den alten Ziegelmauern befestigt worden. Deshalb sei das Gebäude bei dem Erdstoß wie ein Kartenhaus zusammengebrochen, hieß es. Der Ingenieur, der die Arbeiten leitete, hat jedoch alle Vorwürfe zurückgewiesen.

Nach ersten Schätzungen müssen die meisten neueren Bauten des Dorfes vermutlich abgerissen werden, da sie nach dem Erdbeben der Stärke 5,4 akut einsturzgefährdet sind. Lediglich in der Altstadt sei der Großteil der Häuser noch bewohnbar, hieß es. Sie seien meist auf felsigem Untergrund gebaut und würden deshalb Erdstößen besser widerstehen. San Giuliano war am Freitag nach zwei starken Nachbeben ebenso wie drei Nachbargemeinden evakuiert worden. Insgesamt mehr als 3000 Menschen mussten ihre Häuser verlassen und in blauen Zeltlagern Notunterkünfte beziehen.

In der Nacht zum Samstag erschütterten mehrere Nachbeben das Krisengebiet und sorgten erneut für Panik unter der Bevölkerung. In der Hauptstadt der Region Molise, Campobasso, verbrachten viele der 50000 Einwohner die Nacht im Freien. Die stärksten nächtlichen Erdstöße erreichten nach Angaben des staatlichen Erdbebeninstituts die Stärken 3,7 und 3,8 auf der Richterskala. Verletzt wurde dabei niemand. Seit dem Hauptbeben der Stärke 5,4 am Donnerstag sind nach Angaben der Seismologen bereits mehr als 140 Nachbeben registriert worden. Nahe Campobasso stürzte ein Kirchturm ein.

Am Samstag befanden sich die meisten der 61 Verletzten des großen Bebens auf dem Weg der Besserung. Nur der Zustand einer Lehrerin und zweier Kinder sei noch kritisch, hieß es.

Die Behörden der Region haben unterdessen angekündigt, dass alle Schulen bis zum 9. November geschlossen bleiben. Bis dahin sollen alle Gebäude auf ihre Erdbebensicherheit hin überprüft werden.

Am Freitag hatten vor allem zwei Beben Aufregung verursacht. Um 16 Uhr 8 verzeichneten die Geologen des Nationalen geophysischen Instituts in Rom 5,3 Grad auf der Richter-Skala. 12 Minuten später bebte es noch einmal. Dieses Mal 4,1 Grad. Das sind keine Nachbeben, so die Fachleute, sondern das sind schwere Beben, die auf eine nicht abreißende Erdbewegung hindeuten. Von Entwarnung kann deshalb noch keine Rede sein.

Aus diesem Grund wurde das Epizentrum der Beben, San Giuliano, evakuiert. Am Freitag um 17 Uhr 30 mussten die Menschen ihren Ort verlassen. Es kam zu dramatischen Szenen, vor allem unter denjenigen, die ihre Kinder in den Trümmern der Schule verloren hatten und die sich von den kleinen toten Körpern, die in einer Sporthalle aufgebahrt sind, nicht trennen wollten.

Freitag abend bebte die Erde auch in Palermo und in Neapel. Die Geologen ermittelten, dass diese Beben bis nach Rom und Bari zu spüren waren.

Thomas Migge[San Giuliano di Puglia]

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