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Der große Moment. Die Bohrmaschine „Sissi“ bricht die letzte Gesteinsplatte aus dem Fels.

© AFP

Gotthard-Tunnel: "Sissi" bricht den Stein

Die Schweizer feiern den historischen Durchstich im neuen Gotthard-Tunnel. Die Bohrmaschine "Sissi" hat sich durch den Fels gefräst.

Um 14 Uhr 17 fräste sich in 800 Metern Tiefe die Tunnelbohrmaschine „Sissi“ durch den Fels. Das Gestein bröckelt, die letzten eineinhalb Meter Felsen zerfallen. Eine riesige Bohrscheibe wird sichtbar und stoppt, als es keinen Widerstand mehr gibt. 200 Tunnelbauer, Politiker und Honoratioren, die gebannt den Durchstich verfolgten, brechen in Jubel aus. Gerade eben haben sie den historischen Durchstich im längsten Tunnel der Welt verfolgt, der künftigen Alpentransversale, ein gigantisches Verkehrsprojekt, wie es in diesem Ausmaß wohl kaum noch einmal irgendwo auf der Welt durchgesetzt werden könnte. Das Schweizer Fernsehen berichtet seit Stunden live, Stolz erfüllt die Herzen vieler Bürger dieses kleinen Landes. Es ist Balsam für ihre Seele, nach den Konflikten und erlittenen Kränkungen im Verhältnis zu den europäischen Nachbarn, allen voran dem großen Nachbar im Norden.

Der neue Tunnel unter dem Gotthard-Massiv ist ein Bauwerk der Superlative, das die Umwelt schonen soll. Und es ist ein Bauwerk, das sich wahrscheinlich nie rentieren wird. Der Gotthardbasistunnel, mit 57 Kilometern der längste Tunnel der Welt, ist das größte Verkehrsprojekt Europas. Egal, was es kostet, die Schweizer haben sich vor 18 Jahren in einer Volksabstimmung stolz zu diesem Eisenbahnprojekt bekannt. Die Röhren entwickelten sich bis heute zum nationalen Prestigebau. „Der Ruf der Schweiz hat in den letzten Jahren wegen der Wirtschafts- und Bankenkrise gelitten“, unterstreicht AlpTransit-Chef Renzo Simoni. „Jetzt können wir einen Kontrapunkt setzen.“

Im Vordergrund aber steht eine Erkenntnis, an der das kleine Land nicht mehr vorbeikam. Es gibt keinen Platz mehr für zusätzliche Autobahnen. Die bestehenden können den LKW-Durchgangsverkehr nicht mehr aufnehmen. Etwas anderes kommt hinzu. Die Liebe der Schweizer zu ihrer Bahn gilt als einzigartig. Diese Zuneigung wird von der Bahn nicht enttäuscht. Wer einmal in der Schweiz Bahn gefahren ist, macht die Erfahrung, dass der Zug auf die Minute pünktlich ist. Die Waggons sind sauber, das Personal wie auch die anderen Fahrgäste sind angenehm, zurückhaltend und freundlich. Dass Bahnkunden vom Bahnchef öffentlich beschimpft werden, dass Bahnprojekte Landesregierungen in Gefahr bringen können, dass die Bahn eines der unbeliebtesten Unternehmen des Landes ist, das gab und gibt es in Deutschland, in der Schweiz ist so etwas undenkbar.

Am Gotthard sollen die beiden Tunnelröhren nach der endgültigen Fertigstellung 2017 den anschwellenden Güter- und Menschenstrom durch die Alpen kanalisieren – von der Straße auf die Schiene. Sanft und sauber. Dann wird die Strecke für Züge um 40 Kilometer kürzer und sie können 160 km/h fahren, doppelt so schnell wie bisher – verglichen mit dem alten Gotthardtunnel. Die Fahrt Zürich – Mailand verkürzt sich um etwa eine Stunde auf 2 Stunden und 40 Minuten. Die Techniker jubeln schon heute über das später einmal angepeilte Spitzentempo von 200 km/h für die Bahn. Nord- und Südeuropa, vor allem Deutschland und Italien, kommen sich so ein großes Stück näher. „Im Einzugsgebiet der Gotthard-Bahn leben über 25 Millionen Menschen“, rechnet die federführende Baugesellschaft AlpTransit Gotthard AG vor. Auch soll sich die Transportkapazität auf der Gotthardachse verdoppeln. Von heute 20 Millionen Tonnen pro Jahr auf der alten Gotthard-Bahnlinie auf dann 40 Millionen Tonnen im Basistunnel. Die längeren Güterzüge können mit bis zu 4000 Tonnen Ladung durch die Röhren sausen, heute ziehen sie nur 2000 Tonnen hinter sich her. Der Clou: Die „Rollende Autobahn“. Lastkraftwagen werden gegen Gebühr auf die Waggons geschnallt. Die Huckepacklösung soll die Brummis davon abhalten, lärmend und stinkend über die Berge zu schnaufen.

Um die Röhren auszulasten, schlossen die Schweizer mit Deutschland und Italien Verträge ab. Die Nachbarn sollen Zubringerbahnlinien ausbauen. „Probleme hat momentan vor allem Deutschland, weil sich die Bevölkerung entlang des Rheins gegen gewisse Ausbauten wehrt“, sagt der Schweizer Verkehrsminister Leuenberger. Die Italiener hingegen seien mit ihren Bauten „in keiner Weise in Verzug“.

Jan Dirk Herbermann

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