zum Hauptinhalt

Guide Michelin: „Ratte schmeckt süßlich“

Erstmals hat der Guide Michelin Sterne in China verliehen. Ein Besuch bei Chan Yan Tak, dem erstem Drei-Sterne-Gastronomen

Der Auftritt erinnert an alte Herzblatt- Sendungen. „Koch Chan kümmert sich noch um die Küche“, flüstert die Dame aus der PR-Abteilung, huscht durch den Speisesaal, wo die letzten Mittagsgäste bei Obst und Grüntee sitzen, und bittet in ein stilles Separee. Vor der Fensterfront erstreckt sich das Panorama des Hongkonger Hafens, Fähren ziehen weiße Linien ins glitzernde Wasser, am Überseekai sticht ein Kreuzfahrtschiff in See. Der Meister lässt auf sich warten, doch dann schiebt sich fast lautlos eine Wand zur Seite und dahinter steht ein kleiner, kugelrunder Mann mit weißer Kochschürze und verlegenem Lächeln. „War doch alles nur Glück“, sind seine ersten Worte.

Chan Yan Tak hat der Rummel kalt erwischt. Vor wenigen Tagen habe er noch gar nicht genau gewusst, was es mit dem „Guide Michelin“ eigentlich auf sich habe, sagt der Mittfünziger, und gegessen habe er in einem Sterne-Restaurant ohnehin noch nie. Da sei es schon ein Schock gewesen, als der französische Gourmetverlag Anfang Dezember ausgerechnet ihm seine höchste Auszeichnung verlieh: drei Sterne. Chans „Lung King Heen“ (wörtlich: Drachenblick) im Hongkonger Hotel Vier Jahreszeiten ist damit das erste chinesische Restaurant, in dem Gäste ein Ess erlebnis erwartet, das laut Michelin „eine Reise wert“ sei.

Die PR-Dame wird nervös

Chans Sterne sind ein Meilenstein in der kulinarischen Globalisierung. 82 Jahre nach Erfindung des einflussreichsten Restaurantgütesiegels widmet sich die Speiseführersparte des Reifenunternehmens erstmals der chinesischen Küche. Nicht dass diese Michelin brauchte, um ihre Stellung als eine der größten, abwechslungsreichsten und beliebtesten Küchen der Welt zu unterstreichen. Doch in Gourmetzirkeln spielt Chinas Esskultur bisher nur eine Nebenrolle, und bei der Restaurantauswahl musste sich der kulinarische Tourismus bisher auf die Beurteilung weniger rigider Kritiker verlassen. Weil aber Europa auch in der Küche längst nicht mehr das Maß aller Dinge ist, gibt es das kleine rote Büchlein seit vergangenem Jahr auf Japanisch und nun auch auf Chinesisch.

Drei Jahre lang schmeckten sich zwölf verdeckte Michelin-Koster durch die Lokale der ehemaligen Kolonien Hongkong und Macao und verliehen am Ende Sterne an 28 Restaurants. Die bisher 70 Namen lange Liste der Drei-Sterne-Gastronomen wurde dabei um zwei weitere verlängert: In Macao erhielt die Dependance des französischen Starkochs Joel Robuchon die Höchstmarke, der seine weltumspannende Sterne-Sammlung damit auf 17 erweiterte. Der einzige echte Neuzugang in der lukullischen Champions League ist Chan. Dabei ist ihm der Sinn für feines Essen keineswegs in die Wiege gelegt worden. „Wenn wir satt wurden, war meine Mutter schon glücklich“, erinnert sich Chan an seine Kindheit in der damaligen britischen Kronkolonie. „Mein Vater ist früh gestorben, und sie musste mit einfachen Hilfsjobs vier Kinder ernähren. Wir waren wirklich sehr arm.“ Um die Familie zu unterstützen und weil er in der Schule schlecht zurechtkam, suchte sich Chan mit 13 Jahren eine Arbeit. „Die erste Möglichkeit, die sich bot, war eine Stelle als Küchenjunge“, erzählt er. Ein Ausbildungssystem für Köche gab es damals nicht, doch wer sich nicht ungeschickt anstellte, wurde nach und nach eingewiesen.

„Chinesisches Kochen lernt man, indem man hundertmal zuschaut“, erklärt Chan. „So bekommt man langsam einen Blick dafür, welche Farbe Fleisch hat, wenn es gar ist, oder wie eine gute Marinade aussehen muss.“ Bis heute instruiert er seine Köche, indem er ihnen vorkocht. Ein Kochbuch hat er in seiner ganzen Karriere nicht benutzt; die ganze Speisekarte seines Restaurants hat er im Kopf. „Chinesische Küche beruht nicht auf Mengen angaben, sondern auf Erfahrung“, sagt er.

Zu seinem Glück lernte Chan sein Handwerk bei Köchen, auf deren Erfahrung Verlass war. Schon seine ersten Schritte machte er im Restaurant Dai Sam Yuen im Stadtteil Wanchai, das bei wohlhabenden Geschäftsleuten hoch im Kurs stand. So lernte er auch die ausgefalleneren Kunststücke der südchinesischen Küche, etwa die Herstellung von Dim Sum oder den Umgang mit Haifischflossen, Schwalbennestern und Seeohren. Von seiner ersten Anstellung arbeitete Chan sich durch verschiedene berühmte Restaurants nach oben und erarbeitete sich einen Ruf als einer der jüngsten Spitzenköche Hongkongs. An seinen freien Tagen kreierte er für seine Familie regelmäßig Festmenüs. „Ich wollte, dass es für meine Frau ein Feiertag ist, wenn ich zu Hause bin“, erzählt Chan. Doch das Familienglück fand ein jähes Ende. Chans Frau starb, als die gemeinsame Tochter erst 13 Jahre alt war – so alt wie ihr Vater, als er zu kochen begonnen hatte. Dass die Welt nun von ihm erwartet, dass er die Essenz der chinesischen Küche in Worte fasst, erwischt Chan an seiner schwachen Stelle. Zur Philosophie seiner Küche kann er wenig sagen, und von einer eigenen Fernseh sendung will er schon gar nichts wissen. „Ich bin ja nur ein einfacher Koch“, sagt er. Wenn überhaupt, dann will er nur über die kantonesische Küche sprechen, die kulinarische Tradition der südchinesischen Provinz Guangdong. Von den würzigen Gerichten Sichuans verstehe er ebenso wenig wie von der schweren Kost des Nordens, und dass eine Peking-Ente wirklich lecker schmecken könne, bezweifelt er. „In der kantonesischen Küche mögen wir leichte Gerichte“, erklärt er. „Die meisten Speisen haben nur wenig Zutaten, kaum Gewürze und sehr vorsichtige Zubereitungsmethoden, damit der ursprüngliche Geschmack der Zutaten erhalten bleibt.“

Doch so voll und ganz kann Chan die Möglichkeiten der kantonesischen Ess tradition nicht auskosten. Zu deren Credos gehört nämlich, dass es kein Tier gebe, das nicht in der Küche landen könne. „Jedes Lebewesen, dessen Rücken zum Himmel zeigt, ist essbar“, sagt Chan.

Allerdings schützen in Hongkong seit geraumer Zeit die Tierschutz- und Hygienegesetze viele Tiere vor dem Topf. Das habe zwar gute Gründe, meint der Küchenchef, aber der Reiz, alles einmal zu probieren, sei doch sehr groß. Deswegen fahre er manchmal über die Grenze nach China, um von den verbotenen Speisen zu naschen. Als er dort vor einigen Tagen mit Kollegen seine drei Sterne gefeiert habe, seien etwa auch Ratten- und Katzenfleisch aufgefahren worden. „Ratte schmeckt süßlich“, sagt Chan, quittiert den nervösen Blick der PR-Dame jedoch mit dem schnellen Geständnis, dass er nur einen ganz kleinen Probier happen gegessen habe. Die besten Gerichte seien aber ohnehin nicht die ausgefallenen, sondern die einfachen. „Haifischflossen oder Vogelnester schmecken nach gar nichts“, bekennt Chan, „das ist man nur, weil es selten ist.“ Sein eigenes Leibgericht ist dagegen ein ganz schlichter gedämpfter Fisch mit Sojasoße. Aber was heißt da schlicht: So wie Chan ihn zubereitet, ist er eine Reise wert.

Zur Startseite