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Haiti-Berichterstattung: Erste und Dritte Welt treffen hart aufeinander

"Wo bleibt die Hilfe?", fragen die Menschen in Haiti, deren Verwandte noch immer unter den Trümmern liegen. Ihr Drama wird vor allem im nahen Amerika verfolgt, das nun endlich wieder eine Macht des Guten sein darf.

Er war zwei Tage lang unter Trümmern eingeschlossen. Jhon Verpre Markenley hatte noch Glück, der Teenager war bei dem Beben nicht schwer verletzt worden. Doch aus eigener Kraft befreien konnte er sich nicht. Fingerdicke Metallstäbe, die einst die Wände seiner Schule verstärkten, hatten sein Bein eingeklemmt. Schließlich robbte sein Vater mit einem Schneidbrenner durch die Lücken zwischen den verkeilten Betonplatten, die bedrohlich ächzten, als könnten sie jeden Moment zusammenfallen. Während der Junge wimmerte, aus Angst vor Brandverletzungen, gelang es dem Vater, sein Bein zu befreien. Die Mutter tanzte vor Glück, als Jhon aus den Trümmern hervorkroch.

Einige Kilometer weiter zogen Helfer den estnischen UN-Wachmann Tarmo Joover unter den eingestürzten Büroräumen der Vereinten Nationen im Christopher-Hotel hervor. Er lag seit Dienstagnachmittag unter mehr als vier Metern Schutt begraben, und es wirkt wie ein Wunder, dass er bis auf ein paar Schürfwunden unversehrt ist. Mehr als hundert weitere UN-Mitarbeiter werden noch unter den Gebäuderesten vermutet.

Unzählige ähnliche Rettungsdramen spielen sich in Haiti ab – und bewegen zugleich Millionen Amerikaner. Die sind aus der Ferne dabei, in Jhons Fall dank der „New York Times“, in vielen anderen live im Fernsehen. Parallel zu den ersten Medikamentenlieferungen und professionellen Suchmannschaften sind die großen US-Nachrichtensender auf der Karibikinsel gelandet – mit eigener Stromversorgung über Generatoren, mit Satellitensendeanlagen, Nahrung, Trinkwasser und provisorischen Unterkünften. Rund um die Uhr sieht Amerika Bilder von Zerstörung und Schmerz, von Überlebensglück und mitmenschlicher Hilfe. Die kommt ganz überwiegend aus Amerika, das sich seit Jahrzehnten als Schutzmacht der kleinen Nachbarstaaten in der Karibik versteht. „Die Situation verlangt nach amerikanischer Führung, im Namen der Menschlichkeit und im Vertrauen auf Gottes Hilfe“, sagt Präsident Barack Obama; die Formulierung erinnert manche an die Rhetorik seines Vorgängers George W. Bush.

Am dritten Tag nach dem Beben wird der Grat zwischen Leben und Tod immer schmaler. Die Hauptstadt Port-au-Prince ist eine Ansammlung von Trümmerhalden. Wo zuvor Schulen und Wohnhäuser standen, sammeln sich verzweifelte Menschen auf der Suche nach vermissten Kindern und Angehörigen. Ihre Gesichter sind mit Staub und geronnenem Blut verkrustet. Manche weinen leise, andere schreien ihren Zorn und ihre Enttäuschung laut heraus. „Wo bleibt die versprochene Hilfe, wo die Suchmannschaften?“, fragt ein stämmiger Mittvierziger vorwurfsvoll amerikanische Reporter. „Hier ist noch nichts angekommen, und mein Bruder liegt irgendwo da unten.“

Erste Welt und Dritte Welt treffen hart aufeinander. In einer raschen und energischen Hilfsaktion haben die USA praktisch das Krisenmanagement übernommen. 24 Stunden nach dem Beben war der Flughafen Port-au-Prince bereits wieder einsatzfähig, obwohl der Tower zusammengestürzt war. Ein Schiff der US- Küstenwache von der nahen Marinebasis Guantanamo auf Kuba leistet mit seiner hochmodernen Überwachungstechnik die Luftraumkontrolle. Auch Hilfslieferungen kamen aus Guantanamo – der Name, der wie kaum ein anderer die hässlichen Methoden im Kampf gegen den Terror symbolisiert, steht plötzlich für das gute und hilfreiche Amerika.

Nach 48 Stunden waren drei professionelle Suchmannschaften mit Hunden, je über 70 Mann Personal und tonnenweise Ausrüstung aus Virginia und Florida eingetroffen. Wenig später lief der Flugzeugträger „Carl Vinson“ vor der Küste ein. Er hat dringend benötigtes Verbandsmaterial an Bord und liefert mit seinen 19 Hubschraubern neue Transportkapazitäten in einem verwüsteten Gebiet, in dem viele Straßen durch Trümmer blockiert sind. In wenigen Tagen wird das Lazarettschiff „Comfort“ Haiti erreichen, auf dem selbst komplizierte Operationen am offenen Herzen möglich sind, wie Koordinatoren des US-Außenministeriums im persönlichen Gespräch stolz vermerken.

Aus diplomatischer Rücksicht betonen sie zugleich, Haitis Präsident René Préval leite alle Aktionen. Tatsächlich sind seine Regierung und Staatsverwaltung kaum handlungsfähig. Viele Ministerien, Krankenhäuser und Polizeistationen sind zerstört, unzählige Mitarbeiter wurden getötet oder werden vermisst. Ähnliches gilt für die UN-Mission auf Haiti. Obama hat 5000 US-Soldaten in Marsch gesetzt, die die öffentliche Ordnung sichern sollen. Die USA haben dank Satellitenaufklärung und Luftbildern offenbar auch den besten Überblick über die Lage.

Doch im Wettlauf gegen die Zeit hat die technische und organisatorische Überlegenheit der USA ihre Grenzen. 72 Stunden nach einer solchen Katastrophe sinken die Überlebenschancen der Verschütteten und der unversorgten Verletzten dramatisch, erklären professionelle Helfer immer wieder. Diese 72 Stunden liefen am Freitagnachmittag ab. Doch noch immer fehlt in den am schlimmsten betroffenen Vierteln von Port-au-Prince schweres Gerät, um Betonplatten anzuheben, unter denen Überlebende vermutet werden. „Wenn man auf Hilfe für das vermisste Kind wartet, fühlt sich ein Tag wie ein Jahr an“, klagt eine Frau, die in schwarzer Kleidung vor den Überresten einer Schule im Straßenstaub kauert.

In vielen Straßen liegen Leichen, um die Fliegen summen. Nach und nach werden sie mit Tüchern abgedeckt und auf Tragen zu Sammelpunkten gebracht. Aus Angst vor Seuchengefahr habe man 7000 Leichen in einem Massengrab beerdigen müssen, sagte Präsident Préval mit bedeckter Stimme am späten Donnerstag. Es blieb nicht einmal Zeit, um ihre Identität festzustellen. US-Sender zeigten grausige Bilder: Ein weißes Räumgerät mit breiter Schaufel kippte leblose Körper in die Mulde eines Lastwagens. Fast übergangslos schaltet CNN von diesen Bildern zu einer Expertenrunde, die neben technischen Details der Hilfe auch Amerikas Bild in der Welt diskutiert. Haiti habe in seinem Unglück das große Glück, die USA zum Nachbarn zu haben, sagt einer. Amerika sieht sich bestätigt in seinem Selbstwertgefühl. Die größte Macht des Guten auf der Erde, nennen Konservative ihr Land gerne.

Bei der Haiti-Hilfe sind die Meinungen freilich nicht einhellig. Die überwältigende Mehrheit zeigt Mitgefühl. Wie beim Tsunami in Asien 2004 spenden die Bürger auch jetzt viele Millionen Dollar – obwohl sie unter der schlimmsten Wirtschaftskrise seit 70 Jahren leiden. Zwei Autoritäten der Erzkonservativen rieten hingegen von Spenden ab. Der Prediger Pat Robertson behauptet, das Erdbeben sei eine Strafe, weil Haiti einen „Pakt mit dem Teufel“ eingegangen sei: Er spielte auf den verbreiteten Voodoo-Glauben an und auf die gewaltsame Entwicklung der jüngsten 25 Jahre im Übergang von der Diktatur zur Demokratie. Der einflussreiche Radio-Talker Rush Limbaugh kritisiert, die Bürger hätten mit ihren Steuern, aus denen Präsident Obama die hundert Millionen Dollar Aufbauhilfe für Haiti bezahle, genug für die Insel getan. Tatsächlich liegt es wohl eher daran, dass Limbaugh Obama den Imagegewinn durch erfolgreiches Krisenmanagement nicht gönnt.

In ihrem Weltbild haben die USA die Nachbarn im Süden längst eingemeindet. „The Americas“ nennen die Medien den gemeinsamen Lebensraum. Das Beben hat das Zusammengehörigkeitsgefühl verstärkt. Zwei Millionen Haitianer leben in den USA, mehr als 50.000 US-Bürger auf Haiti. Aber beruht dieses Gefühl auf Gegenseitigkeit? Am Donnerstag und Freitag mehrten sich auf den US-Sendern die Stimmen zorniger Haitianer, die sich in ihrer Not im Stich gelassen fühlen, weil die versprochene Hilfe in ihrem Viertel noch nicht angekommen ist.

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