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Surreale Szenerie: Die "Costa Concordia" sinkend im blauen Meer.

© dpa

Havariertes Kreuzfahrtschiff: Costa-Concordia-Unglück - Von Helden und Versagern

Unter Hochdruck versuchen Helfer, letzte Vermisste in der Costa Concordia zu finden. Und eine Insel steht unter Schock. Von einem Wettlauf gegen die Zeit.

Die Maregiglio pflügt rollend und stampfend durchs Meer. Auf einer Bank auf dem Achterdeck liegt an diesem Morgen ein junger, bärtiger Mann. In eine Wolldecke hat er sich gewickelt, er zittert trotzdem. Seinen Kopf hat er auf den Schoß seiner Mutter gebettet, neben ihm sitzt in Schwarz seine Schwester. Warum die drei stillen Passagiere an Bord der kleinen, weiß-roten Autofähre sind, die um diese Jahreszeit nicht viel zu tun hat, weil ihr Ziel, die kleinen Inseln vor der toskanischen Küste zu dieser Jahreszeit wie ausgestorben sind, warum also das Trio schweigend unterwegs ist, das deutet ein Hefter mit Farbkopien an. Der junge Mann hat ihn sich auf die Brust gelegt. Steckbriefe sind es.

Ein eleganter Mann ist auf den Zetteln zu sehen, schwarzes Wollhemd, weißer Kragen, eine Geige aufs Knie gestützt. Sándor Fehér heißt er. Der 38-Jährige ist Musiker, und vielleicht wurde ihm zum Verhängnis, dass er zum Orchester der Costa Concordia gehörte, jenem wie gestrandet daliegenden weißen Schiff, dessentwegen die Maregiglio nun Extratouren fährt – für Feuerwehr-Teams und Höhlentaucher, Polizisten, Soldaten und für Hunderte von Journalisten und Fernsehteams. Sowie für drei Menschen, die einen Sohn und Bruder verloren haben, womöglich für immer.

Aber die Familie ist aus Ungarn angereist, um Sándor zu suchen. Seit der Havarie, seit fast einer Woche, hätten sie kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten, sagt der Mann in der Wolldecke in allerbestem Englisch. Aber vielleicht, wenn sie jetzt selber auf die Insel kämen und an möglichst viele Leute den Steckbrief verteilten … Seine Hoffnung kleidet sich in ein Fragezeichen.

Die Concordia, eines der größten Kreuzfahrtschiffe der Costa-Reederei, ist schon aus zehn Kilometern Entfernung zu sehen. Je näher die Fähre kommt, desto mehr zeigt sich, wie den weißen Rumpf ein Wimmeln umgibt. Gelbe Bergungsschlepper und rote Feuerwehrboote tanzen auf dem blauen Meer.

Da liegt sie also, auf der Seite, fast dreihundert Meter lang, ein weißer Riegel vor den sandbraunen Granitfelsen der Insel. Dorthin, in seichte Gewässer, nur eine Schiffslänge vom Hafen Giglios entfernt, hat sie nach der Kollision mit einem Unterwasserfelsen gesteuert, wer immer in diesem Moment auf der Brücke des Ozeanriesen noch das Kommando hatte. Ob es der Kapitän selbst war oder einer seiner Offiziere, der mit ihm die Geduld verloren hatte, es war vielleicht die einzige glückliche Tat an diesem Unglückstag.

„Furchtbar, furchtbar, furchtbar“, murmelt Emilio Scotto. Vierzig Jahre war er Matrose auf Öltankern und Postschiffen, zweimal hat er die Welt umrundet. Scotto stammt von der Isola del Giglio. Auf der Insel, sagt er, gibt es in jeder Familie mindestens zwei oder drei Männer, die zur See gefahren sind. „Männer des Meeres“ seien die Gigliesi, sagt Scotto. Aber so was wie die Havarie der Concordia, das hat weder er selbst in seinem 90-jährigen Leben noch ein anderer seiner Bekannten je gesehen. „Madonna, hab ich mir gesagt an jenem Abend, was will dieses Riesenschiff in unserem kleinen Hafen? Und warum liegt es still?“

Scotto vermutete zuerst, sie wollten an Bord irgendein Fest veranstalten. Aber das hatte es noch nie gegeben. Die Fahrpläne kennt Scotto auswendig, und was die prächtigen Passagierdampfer „normalerweise“ tun, dafür hat er ein ebenso geübtes Auge. Mehrfach wöchentlich sieht er sie an Giglio vorbeiziehen. Warum also?

Bevor er eine sinnvolle Antwort auf seine Fragen bekam, sah Scotto von seiner Wohnung direkt am Hafen auch schon, wie das Schiff sich neigte, ganz langsam, ganz leise, ohne jeden Lärm. Erst ein paar Stunden später sei an den Kais alles so voll von Leuten gewesen, dass kein Durchkommen mehr war.

Die Stunden der Rettung geben weiter Rätsel auf

Es sind diese Stunden, die der Polizei und den Rettungskräften nach wie vor Rätsel aufgeben. Denn nachdem die Concordia etwa um 21.30 Uhr das Riff gerammt hatte, sollen zweieinhalb Stunden vergangen sein, bis die Evakuierung anlief. Davor gab Kapitän Francesco Schettino der alarmierten Hafenbehörden am Telefon zu verstehen, dass es nur „ein technisches Problem“ gebe und sprach von einem Stromausfall. In dieser Zeit soll Schettino fast ausschließlich mit seinen Vorgesetzten bei der Reederei telefoniert haben. Was während der mindestens drei Gespräche besprochen wurde, ist bisher weitgehend unbekannt. Aber es gibt in Italien den Verdacht, man könnte ihm in der Costa-Zentrale geraten haben, die Sache erst mal herunterzuspielen.

Dafür spräche, dass sich Costa Crociere am nächsten Tag uneingeschränkt hinter den Kapitän stellte, ihm bescheinigte, verantwortlich und den Regeln konform gehandelt zu haben, und erst von ihm abrückte, als das Ausmaß seines Versagens nicht mehr zu verbergen war. Die römische Tageszeitung „Repubblica“ zitierte am Donnerstag anonym verschiedene Quellen, nach denen es „eine ungeschriebene Regel“ gebe: „Wenn man in Schwierigkeiten ist, nie im Hafen um Hilfe bitten, solange die Situation nicht völlig eskaliert. Und wenn es nötig wird, ist der Alarm zu begrenzen.“

So wurden die Rettungsboote erst zu Wasser gelassen, als sich die Concordia zur Seite zu neigen begann und Einrichtungsgegenstände an Bord umstürzten und ins Rutschen gerieten. Die widersprüchlichen Durchsagen über die Bordlautsprecher könnten Passagiere bewogen haben, ihre Kabinen, in die sie vorher geschickt worden waren, nun nicht mehr zu verlassen. Noch immer gelten 21 Personen als vermisst.

Hunderte der Schiffbrüchigen, die es in der Nacht zu Samstag auf die Insel schafften, sind bei Don Lorenzo gelandet. Er ist der Pfarrer am Ort, was man aber nicht gleich sieht, weil er über dem schwarzen Kragen ein stahlblaues Fleece-Hemd gegen die Winterkälte trägt. „Nicht schon wieder“, wehrt Don Lorenzo ab, der sich in diesen Tagen vor Fernsehteams und Interviews nicht mehr retten kann, aber dann erzählt er trotzdem noch einmal von jener Nacht: Wie er die Kirchentür geöffnet hat, wie die Inselbewohner mit Decken und Jacken, mit trockenen Socken, mit Tee und Brot vorbeikamen. „Ich hab auch eine philippinische und eine indonesische Ordensschwester hier, die konnten die Geretteten aus der Besatzung in deren eigener Sprache trösten.“ Es ist merkwürdig diesen Mann davon erzählen zu hören, wie wenig es brauchte, viel zu erreichen.

Neun Kilometer ist Giglio lang, eintausend Leute in drei Dörfern wohnen normalerweise hier, und die jungen Leute, wenn sie eine höhere Bildung als die Hauptschule wollen, müssen woanders hingehen. Jeden Sommer kommen bis zu 200 000 Touristen nach Giglio, an Spitzentagen im August können es bis zu 13 000 auf einmal sein. „Mehr verkraftet die Insel gar nicht“, sagt ein etwa 40-Jähriger, der oben auf dem Inselberg lebt, in der mittelalterlichen, burgartig ummauerten Siedlung Castello. Als Giovanni will er sich in der Zeitung wiederfinden, und er hat in jener Nacht überhaupt nichts mitbekommen von dem Drama. „Am Samstagmorgen hab ich, wie jeden Tag, das Internet angemacht, und als ich die Schlagzeilen sah und das Foto mit der Concordia da angeblich vor unserer Insel, dachte ich, das sei ein blöder Scherz, eine Fotomontage.“ Dann ist er aber doch vors Haus, und genau unter seinen Klippen sah er „das Ding in echt“.

Giovanni ist es auch zu verdanken, dass vier Amerikaner schnell von der Vermisstenliste gestrichen werden konnten. „Ich bin da zufällig an einem Hotel vorbeigekommen, nachmittags um halb vier. Da standen vier seltsame Gestalten, ihre Kleider tropften immer noch. Die waren im Hotel einfach eingeschlafen.“

"Hat der Kapitän sie noch alle?"

Wie jeder, den man in diesen Tagen auf der Insel fragt, kommt Giovanni auf den Kapitän der Concordia zu sprechen, der das Schiff auf die Klippen gesteuert hat und nun sagt, er sei „Opfer seiner Gedanken“ geworden. Wütend sind sie auf ihn. Wegen seines Steuerfehlers, aber noch viel mehr, weil er das Schiff vor den Passagieren verlassen habe. „Jetzt hat er dem Staatsanwalt auch noch erzählt“, sagt Giovanni und zieht die Zeitung unter seinem Arm hervor, „er sei gar nicht freiwillig ins Rettungsboot gestiegen, sondern reingefallen! Hat der sie noch alle?“

Schettino, den das Gericht am Vortag unter Hausarrest gestellt hatte, weil er einer geregelten Arbeit nachgehe, wird am Donnerstag von der Costa-Reederei suspendiert. Zu schwer wiegen die durch Telefonmitschnitte dokumentierten Anschuldigungen. Er hat die Lage verharmlost, Ausreden gesucht, wo er hätte handeln sollen und gelogen

Zum allgemeinen Treffpunkt der Insel ist in diesen Tagen die Einsatzzentrale am Hafen geworden. Da sind die Profitaucher der Feuerwehr in ihren dicken Neoprenanzügen, behängt mit Karabinern und Seilen, die sich Instruktionen holen. Noch suchen sie nach Vermissten, „aber die Arbeit wird immer härter“, sagt einer. „Das Wasser im Schiff ist mittlerweile braun wie Kaffee, da siehst du nichts mehr.“ Außerdem macht der Einsatzleitung ein näher rückendes Tiefdruckgebiet Sorgen. Hoher Wellengang würde die Arbeit der Suchtrupps im Schiff zu gefährlich machen. Ohnehin droht der Stahlkoloss immer weiter ins Meer abzugleiten.

Am Kai liegt auch eine Plattform vor Anker mit Kran und Schläuchen und Generatoren und Tanks. Auf ihr werken recht wortkarge holländische Spezialisten in ihren von schwarzen Ölflecken schimmernden Overalls. Demnächst wollen sie das Heck der Concordia durchbohren und Heizschlangen in die Tanks senken, um das Schweröl anzuwärmen und dann abzupumpen. Auf vier Wochen Arbeit richten sich diese Männer ein, „wenn das Wetter mitspielt“, sagen sie.

Und die Gigliesi am Ufer, die hoffen nur, dass das gut geht. Sie leben vom Sommertourismus und vom Fischfang. „Unser Trinkwasser“, sorgt sich Emilio Scotto, der 90-Jährige, „holen wir über Entsalzungsanlagen aus dem Meer.“ Öl an der Küste oder auf dem Grund, „das wäre unser Ende“.

Wobei – es gibt auch Leute, die schon wieder zum Scherzen aufgelegt sind. In der Runde um Giovanni sagt einer: „Die sollen uns das Öl doch lassen. Dann verkaufen wir’s und werden reich!“ Und ein anderer hat eine noch bessere Idee. Er will, dass das Schiff aufgerichtet, saniert und ordentlich verankert werde. „Dann haben wir wenigstens mal ein Luxushotel!“

An diesem Tag melden italienische Nachrichtenagenturen: „Bei der von Tauchern aus der Concordia geborgenen Leiche handelt es sich um den ungarischen Bordgeiger Sándor Fehér. Die Angehörigen haben seine Leiche identifiziert.“

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