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Beim Vergessen werden die Netzwerke gekappt, die beim Lernen geschaffen wurden.

© Kitty Kleist-Heinrich

Hirnforschung: Löschtaste im Hirn

Das Gehirn bietet genug Platz, um alles Erlebte und Gelernte zu speichern. Doch Erinnern und Vergessen sind die notwendigen Pole eines intakten Gedächtnisses, sagen Wissenschaftler.

Über ein schlechtes Gedächtnis musste sich Solomon Schereschewski Zeit seines Lebens nicht zu beklagen. Der Russe, Jahrgang 1886, besaß eine phänomenale Merkfähigkeit. Der Journalist prägte sich einmal gehörte Ansprachen Wort für Wort ein, ebenso wie Formeln und Zahlentafeln oder Texte in fremden Sprachen. Einfach alles, was man ihm vorlegte. Ein Traum? Eher ein Alptraum.

Von Banalitäten am Denken gehindert

Schereschewski konnte nicht vergessen, und das wurde für ihn zum Fluch. Er wurde von Details seiner Erinnerungen regelrecht überschwemmt, von einer Lawine der Banalitäten am Denken gehindert. Ungefähr so, als wenn wir jederzeit rekapitulieren könnten oder müssten, wo wir unser Auto oder Fahrrad in den letzten zwei Jahre abgestellt haben, welches Wetter vor 71 Tagen herrschte und was wir vor 28 Tagen zum Frühstück hatten.

Eine furchtbare Vorstellung! Das bedeutet im Umkehrschluss: Um im Alltag zu bestehen, muss man ständig Unwichtiges vergessen. Mehr noch: Die Löschtaste im Gehirn sorgt dafür, dass man geistig auf der Höhe bleibt.

Für die Hirnforscher Blake Richards und Paul Frankland von der Universität Toronto ist inzwischen gut belegt, dass Vergessen genauso wichtig für unser Gedächtnis ist wie Erinnern. „Wir haben etliche wissenschaftliche Belege gefunden, dass es Mechanismen für Gedächtnisverlust gibt und dass diese sich von denen unterscheiden, die am Speichern von Information beteiligt sind“, sagte Frankland laut einer Pressemitteilung. Im Fachblatt „Neuron“ breiten die beiden Forscher ihre These aus, dass Merken und Vergessen notwendige Pole eines intakten Gedächtnisses sind.

Milliarden Nervenzellen

Warum muss das Gehirn vergessen? Um Platz für neue Erinnerungen zu schaffen, lautet eine intuitive Erklärung. Doch sie stimmt nicht, wie die Wissenschaftler ausführen. Das Gehirn besitzt 80 bis 90 Milliarden Nervenzellen. Wenn man nur ein Zehntel von ihnen für das Speichern persönlicher Erlebnisse reservieren würde, könnte man eine Milliarde dieser Episoden „abheften“, bei sparsamem Speichern sogar weitaus mehr.

Vergessen ist also kein Problem mangelnden Speicherplatzes.

Warum hat die Evolution dann den Menschen mit einem so lückenhaften und ungenauen Gedächtnis ausgestattet? Wäre es nicht viel besser, alles haarklein auf der biologischen Festplatte registriert zu haben? Richards und Frankland widersprechen. In einer sich rasch ändernden und verwirrenden Welt ist es eher von Nachteil, viele konkrete Erinnerungen parat zu haben. „Vergessen dient der Anpassung an eine wechselvolle Umgebung, weil es flexibles Verhalten ermöglicht“, schreiben sie. Schereschewski, der Gedächtniskünstler, war dagegen von seiner Vergangenheit eingemauert.

Strömen viele Informationen auf das Gehirn ein, sind auf spezielle Situationen zugeschnittene Denk- und Verhaltensvorgaben eher von Nachteil. In solchen Situationen ist geistige Beweglichkeit wichtig. Entscheidungen sollten dann eher von allgemeinen Grundsätzen und Erfahrungen geleitet werden, nicht von Kleinigkeiten aus der Vergangenheit. Entscheidend ist das Wesentliche, die Essenz des Erlebten, nicht seine Details.

Ein Wechselspiel

Anders sieht es aus, wenn die Umgebung „zuverlässig“ ist und sich wenig ändert. Dann haben detailreiche und konkrete Gedächtnisinhalte ihren Platz. Nach dem Motto: Das haben wir immer so gemacht! In jedem Fall ist es das Wechselspiel von Beständigkeit und Vergänglichkeit, das ein funktionierendes Gedächtnis ausmacht. Es wird damit zur wichtigen Entscheidungshilfe.

Was geschieht beim Erinnern im Gehirn? Die Erinnerung selbst ist in einem Netzwerk von miteinander über Kontakte (Synapsen) verbundenen Nervenzellen gespeichert. Das Netzwerk wurde im Moment des Lernens geknüpft. Beim Lernen wird es wieder aktiviert. Stark vereinfacht gesagt: Je stärker die Kontakte zwischen den Netzwerk-Nervenzellen, umso vitaler die Erinnerung.

Kein perfekter Speicher des Erlebten

Beim Vergessen geschieht das Umgekehrte. Nervenkontakte und Netzwerke werden geschwächt. Zusätzlich treten neu gebildete Nervenzellen auf den Plan, etwa im Hippocampus („Seepferdchen“), einer in den Tiefen des Schläfenlappens gelegenen Gedächtniszentrale. Sie „stören“ die bereits existierenden Nerven-Netze und schwächen Erinnerungen.

„Wir erinnern uns nicht an Tage, sondern an Momente“, zitieren die Wissenschaftler den italienischen Dichter Cesare Pavese. „Der Reichtum des Lebens beruht auf Erinnerungen, die wir vergessen haben.“ Das Gedächtnis aber ist kein perfekter Speicher des Erlebten und Gelernten. Eher ist es ein Haus, das ständig um- und ausgebaut wird: Und zwar je nachdem, wer gerade in ihm wohnt.

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