zum Hauptinhalt
Wo die Kameras sind, sind auch die Hilfsorganisationen. Sie brauchen Bilder, vorzugsweise von Kindern, um im Kampf um den großen Spendenkuchen zu bestehen. Fotos wie dieses, mit zwei kleinen Schwestern in einem Krankenlager in Haiti, gehen um die ganze Welt.

© AFP

Humanitäre Hilfe: Mitleid – eine boomende Industrie

Humanitäre Hilfe im Notfall ist wichtig. Und ein Milliardengeschäft. Experten kritisieren jetzt die Haltung vieler Organisationen.

Von Caroline Fetscher

Ein alter Mann in Pakistan, er geht an Krücken, erklärt einem deutschen Reporter, in seinem Dorf sei nach der großen Flut vom Sommer keine Hilfe angelangt, kein Sack Reis, kein Kanister mit Palmöl. „Die mächtigen Leute“, klagt er, „verteilen die Gelder an ihre Freunde. Unser Dorf gehört nicht dazu.“ Als nach den Wassermassen die Hilfsdollars ins Land strömten, hat sich bedient, wer konnte. Auswärtige Helfer, angewiesen auf lokales Personal und in der Regel ohne Kenntnis der Landessprache, haben Mühe, ihre Ziele im Geflecht der örtlichen ethnischen, politischen und familiären Interessen durchzusetzen. Vielmehr brauchen sie gerade die Akteure am Ort, um überhaupt Zutritt zu erhalten, um eine Logistik auf die Beine zu stellen, mit der sich Hilfsgüter verteilen lassen. Szenen wie jene mit dem Alten in Pakistan, gesendet in den „Tagesthemen“ vom 9. November, zeigen, wie schwer es ist, Hilfe jenen zugutekommen zu lassen, die sie wirklich benötigen, weil sie akut in Not sind.

Jeder, der in Krisengebieten die Augen offen hält, sieht, wie Spenden versickern. Während des Kosovokrieges sahen wir Journalisten die Lastwagen von Hilfsorganisationen – randvoll mit Reissäcken, Konserven, Decken, Matratzen, Zeltplanen und Medikamenten – die steilen Serpentinen zu Flüchtlingslagern in den Bergen Nordalbaniens hinaufächzen. Sie kamen aus ganz Westeuropa, den USA und sogar Japan. Oben warteten Hunderttausende auf das Lebensnotwendige, was ihnen das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, UNHCR, versprochen hatte. Alle paar Dörfer aber machten die Laster halt. Sie wurden schon erwartet. Hurtig hievten die Fahrer Säcke oder Kisten von der Ladefläche, händigten sie den Wartenden aus und fuhren weiter, nachdem sie die Empfänger kräftig umarmt hatten. „Verwandte! Familie!“, erläuterte unser Fahrer Murat M. gelassen. „Das ist normal.“ Er erklärte, dass die Clans es niemals dulden würden, wenn einer der Ihren mit so viel Gratisware herumfährt und nichts davon weiterreicht an die Seinen. Entlang der Schlaglochpiste boten gut gelaunte Kinder und Jugendliche Ware feil: Dosen mit Thunfisch, Matratzen vom Roten Kreuz, blaue Planen mit dem Logo des UNHCR. Oben in den Lagern fluchten die Leute beim Anblick von Wasserflaschen und Brotlaiben. Sie spuckten aus: „Bei uns kommt seit Wochen nur Wasser und Brot an, alles andere wird gestohlen!“

Dort sein wollten damals, 1999 im Kosovo, bald an die tausend Hilfsorganisationen. Kosovo galt als „high visibility crisis“, eine weithin sichtbare Krise mit viel Fernsehpräsenz. Das ist eine Chance für jede Organisation, ihre Appelle an die Gebenden zu richten. Umgekehrt wissen die Eliten vor Ort, dass die Bilder der Not Hilfsgüter anlocken wie Lichtquellen Insektenschwärme. Ist die Krise vorüber, geht es an den Wiederaufbau, das nächste Geschäft. Vom UN-Bürokraten bis zum kleinsten Helfertrupp brauchen sie alle Fahrer, Putzfrauen, Gärtner, Übersetzer. Englischlehrer verschwinden aus den Schulen, bei den internationalen Helfern, den „Internationals“, verdienen sie das Dreifache. Ärzte verlassen ihre Kliniken, medizinische Hilfsorganisationen bieten ihnen beste Konditionen. Bürgermeister und Behörden kassieren „Anbahnungsmittel“, damit sie Baugenehmigungen für Schulen, Kläranlagen, Straßen erteilen. Gespendet wird dennoch, und das im großen Stil. Für Tsunami-, Dürre- oder Erdbebenopfer, für Krisengebiete und Konfliktregionen öffnen wohlhabende Staaten und Privatleute ihre Brieftaschen. Von Biafra über Äthiopien, Afghanistan, Haiti, Bangladesch, Kambodscha bis zu Rumänien oder Bosnien – gigantische Summen sind seit Jahrzehnten aus den reicheren in die ärmeren Gefilde des Globus unterwegs. Humanitäre Absicht und politische Intention waren und sind die Triebkräfte hinter diesem Vorgang. Seit der Genfer Henri Dunant, 1901 Träger des ersten Friedensnobelpreises, gegen Ende des 19. Jahrhunderts das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) ins Leben rief, vor allem um das Leid von Soldaten zu lindern, eilen professionelle Helfer von außen an Orte, wo es akut keine Hilfe gibt. Im modernen Sprachgebrauch haben die guten Taten Namen wie Katastrophenhilfe oder humanitäre Intervention. Parallel zu solcher Akuthilfe des Roten Kreuzes, der Uno oder von Ärzte ohne Grenzen existiert die aus der Epoche der Missionen und des Kolonialismus hervorgegangene staatliche, kirchliche oder private Entwicklungshilfe, inzwischen gern Entwicklungszusammenarbeit genannt.

Große, global operierende Organisationen mit Tausenden von Mitarbeitern und Freiwilligen haben „Hilfe“ zu einem milliardenschweren Business anschwellen lassen. Nach Angaben des britischen Overseas Development Institute umfasste der Markt allein der nichtstaatlichen Organisationen, der sogenannten NGOs, 2008 ein Volumen von 18 Milliarden Dollar und über 300 000 Beschäftigten. Darüber hinaus gehen laut OECD knapp 120 Milliarden Dollar an staatlichen Hilfen aus den führenden Industrienationen in Entwicklungsprojekte und den Wiederaufbau in Konfliktregionen. Hauptempfänger, sogenannte „donor darlings“, sind derzeit der Irak und Afghanistan. Was aber hilft wirklich? Und wem? Schon zu Dunants Zeiten argwöhnte Florence Nightingale, jene britische Lazarettschwester, die als Mutter der Krankenpflege und Hilfe gilt, dass die Soldaten für die nächste Schlacht aufgepäppelt würden, medizinische Helfer also die Kriege miternährten. Dunant ignorierte solche Argumente: Besser als Zusehen sei Hilfe allemal. Hilfe für vertriebene, bedrohte und verletzte Zivilisten gehört zu den zentralen Zielen der internationalen Helferkarawane aus UN-Mitarbeitern und „non-governmental organisations“, NGOs, von Regierungen unabhängigen Organisationen. Das Rote Kreuz rangiert dabei als „Quango“, als Quasi-NGO, da es von Regierungen unterstützt wird. Private Helfer, repräsentiert von Persönlichkeiten wie Albert Schweitzer in Zentralafrika oder Mutter Teresa in Indien, firmieren als Mongos, „My own NGO“. Heute fallen etwa die Projekte von Rupert Neudeck oder Rüdiger Nehberg in diese Kategorie – und abertausende mehr. Sie alle konkurrieren um Spenden, Interesse, mediale Aufmerksamkeit.

Weihnachten naht. Wieder klopfen nun die Werber der Mildtätigkeit besonders fest an die Türen. Fotos zeigen Kinder mit großen Augen, Mütter mit leeren Händen, Darbende aus den ärmsten Regionen der Erde. Weltweit ist die Spendenindustrie darin geübt, eine wirksame Balance zwischen Appell, Vorwurf und der Verheißung von Dankbarkeit, von Sinn herzustellen. Mit ein paar Euro, hören wir, kann jeder ein Kind impfen und retten, es in die Schule schicken, seine Familie ernähren. Sie, die Wohlstandsbürger, können Krisen lindern, Not mindern, den Fortschritt voranbringen. Kritiker fordern seit längerem mehr Transparenz und Rechenschaft über das weltweite Business mit dem Erbarmen, die nach außen so unschuldige, unangreifbare „Mitleidsindustrie“, wie etwa das eben erschienene Buch der Journalistin Linda Polman die Branche betitelt. Polman, die als Reporterin Krisengebiete bereiste, kommt – nicht als Erste – zu dem Schluss, dass vom Sudan über Sierra Leone und Kongo bis Afghanistan die Spendendukaten der Industrienationen ambivalenten oder sogar destruktiven Einfluss auf Konflikte ausüben können. Wo Warlords, Taliban und Milizen Teile der Hilfsgüter kapern, verlängert das nicht die Krise? Wenn vorsätzlich Verstümmelte, Amputierte oder mit Absicht ausgehungerte Kinder an anderer Stelle als Köder für die Medien dargeboten werden, um Hilfsmillionen anzulocken, wer provoziert dann was? „Ohne Hungerbaby kein Geld“, sagte ein afrikanischer Beamter der Journalistin Polman. Dass Elendsfotos Business bedeuten, haben auch die Eliten der armen Länder begriffen, weshalb es in Sierra Leone einen Festakt gab, als das Land von der Uno zum „ärmsten Staat der Erde“ erklärt wurde. Dass Hilfsgelder missbraucht werden, dass sie durch Korruption, Klientelismus und Nepotismus versickern und darüber hinaus eine suchtähnliche Dynamik auslösen können, die autonomes Wirtschaften nachgerade verhindert, prangern afrikanische Experten wie Dambisa Moyo oder Axelle Kabou an, die als Schocktherapie den totalen Entzug der Hilfe fordern, außer bei akutem Leid und Naturkatastrophen. Doch Linda Polman macht es sich zu einfach, weil sie – oft ohne genaue Angaben der Quellen für Zahlen und Zitate – ein geradezu monströses Schreckensszenario malt.

Ein solches ist aber in der Tat der Sündenfall der Lager von Goma in der Demokratischen Republik Kongo, die 1994 Flüchtlinge aus Ruanda beherbergte. Bald gingen Leid und Spendenflut eine fatale Liaison ein, und der Ort alimentierte vor allem die Hutu, die Täter im Genozid, während fast eine Million Tutsi ihren Schlächtern überlassen wurden. Der Schock von Goma bewirkte ein Umdenken in der Helferszene, das bis heute anhält. Weitaus seriöser als Polman beschreibt der frühere Präsident von Ärzte ohne Grenzen, der Kanadier James Orbinski, die Notwendigkeit der Reform im Hilfe-Kosmos in seinem ebenfalls gerade auf Deutsch veröffentlichten Bericht „Ein unvollkommenes Angebot. Humanitäre Hilfe im 21. Jahrhundert“. Orbinski schildert die fatalen Kooperationen von NGOs mit Regimen wie dem in Nordkorea. Einerseits nutzen die die Präsenz der Helfer als Aushängeschild, andrerseits kontrollieren sie, wem, wann und wo überhaupt geholfen werden darf. Mehrmals haben sich die grenzenlosen Ärzte aus solchen Gebieten zurückgezogen. Orbinski skizziert einen „New Humanitarianism“, der Hilfe an Bedingungen knüpfen möchte wie demokratische Strukturen, ökonomische Transparenz, Gleichberechtigung der Geschlechter, Gewaltfreiheit. Sich nicht erpressen, nötigen und gängeln zu lassen – also nicht „fatal neutral“ zu bleiben, das sind die Voraussetzungen für solche Hilfe.

In der Praxis wird das durchaus versucht. Von einem Handbuch für Mitarbeiter humanitärer Organisationen, das Transparency International dieses Jahr herausgegeben hat, auch um „das Tabu zu brechen“, wie Sprecherin Roslyn G. Hees Reuters erklärte, werden Helfer zu Aufmerksamkeit angehalten. Worauf sie achten sollen, das spricht Bände. Sie sollen ein Auge darauf haben, ob Hilfsgüter auf lokalen Märkten feilgeboten werden. Sie sollen prüfen, mit wem sie Verträge abschließen. Hellhörig sollten sie werden, wenn ihnen immer wieder genau dieselben „Elendsorte“ vorgeführt werden und wenn Unterernährte nicht an Gewicht zunehmen, obwohl Nahrung verteilt wird. Achten sollen sie darauf, ob gewisse Gruppen größere Rationen für sich fordern, ob der Zugang zu bestimmten Gruppen verwehrt wird, ob Personal am Ort auffällig oft aus derselben Familie, demselben Dorf, derselben Region stammt, ob mehrfach dieselben Unterschriften oder Fingerabdrücke auf Empfängerlisten auftauchen, ob Mitarbeiter plötzlich über ihre Verhältnisse leben. Suspekt sei es, wenn ungewöhnlich viele Hilfsgüter auf dem Transport „beschädigt“ wurden und fehlen, wenn Säcke und Packungen Risse und Löcher aufweisen oder sich in Wagenladungen Hohlräume befinden, wo Ware sein sollte. Vorsicht auch, wenn Computerprogramme mit Abrechnungen auf einmal „abstürzen“, und erst recht, wenn Bankkonten unter falschen Namen laufen. Die Helfercrew solle sich, so die Mahnung, vergewissern, dass Dienstleister Rechnungen nicht fälschen und Quittungen nicht „verlieren“. Verdächtig wird es, wenn Benzintanks immer schneller leer werden, E-Mail-Adressen von Anbietern auf Yahoo oder Hotmail enden. Als Alarmzeichen wertet das Handbuch auch „aggressives oder drohendes Verhalten“ von Milizionären. An Orten der Not sind die Leute keinen Deut dümmer als in den Wolkenkratzern der Weltfinanz. Rasch erfassen die Cleveren ihre Chance, die sich aus der Präsenz einer Flotte dollarschwerer Fremder mit Jeeps, Computern und Hightech-Ausrüstung ergibt.

Ein Hilfeszenario kann wirken wie ein Fass ohne Boden. Oft genug ist es eher ein Boden ohne Fass. Vieles verteilt sich irgendwo, aber der Behälter fehlt, der Sinn und Rahmen stiftet. Zynisches Paradoxon der modernen Konflikte: Zivile Opfer werden zu Ködern, die die Konfliktparteien benutzen, um Hilfe von außen anzulocken. Dabei sind es eben diese Konfliktparteien, die das Elend verursachen.

Die Autorin war in zahlreichen Krisengebieten, unter anderem im Kosovo, in Bosnien, Nordmazedonien und Elfenbeinküste.

Linda Polman: Die Mitleidsindustrie. Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen. Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2010. 264 Seiten, 19,90 €.

James Orbinski: Ein unvollkommenes Angebot. Humanitäre Hilfe im 21. Jahrhundert. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2010, 415 Seiten, 19,95 €.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false