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Panorama: „Ich hörte Kinder schreien und sah sie untergehen“

Augenzeugen berichten: Erst zitterte das Schiff, dann kenterte es rasch. Nur wer sich an den Rumpf der senegalesischen Fähre klammerte, überlebte

Von Wolfgang Drechsler

Jean Marie Diatta steht die Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Den ganzen Freitag und Sonnabend hatte der 32-Jährige am Kai der senegalesischen Hauptstadt Dakar gehockt und auf Nachrichten von der Schiffsfähre Joola gewartet, die am späten Donnerstag in rauer See vor der Küste des westafrikanischen Landes gekentert war. Am Sonntag saß er im Schatten vor dem Hauptbahnhof der Stadt. Sicherheitskräfte hatten zuvor den mit Angehörigen völlig überfüllten Hafen von Dakar abgeriegelt.

Das Vorgehen der Behörden und vor allem ihre Informationspolitik sei unerträglich, schimpft Diatta, der zwei Angehörige unter der Besatzung der vom Staat betriebenen Fähre hat. „Wir haben vom Kentern des Schiffes im Radio gehört. Aber niemand hat uns seitdem Auskunft über das Schicksal der Passagiere oder der Crewmitglieder gegeben.“ Wie bereits am Freitag war die Straße von der Stadt in den Hafen auch am Wochenende von einer riesigen Menschenmenge gesäumt. Viele saßen vor dem Büro der Hafenbehörde und Polizeistation, um die neuesten Nachrichten zu hören.

Während die Zahl der Wartenden ständig anstieg, brachten heimkehrende Boote die Toten oder Überlebenden an Land. Am Sonntagabend veröffentlichten die senegalesischen Behörden die Bilanz einer der schwersten Schiffskatastrophen in der Geschichte: 1034 Menschen waren an Bord, offenbar konnten nur 64 gerettet werden. Über das Schicksal der Vermissten herrscht noch immer Unklarheit. Bislang sollen mehr als 350 Passagiere, darunter viele Kinder, tot geborgen worden sein. Für die Verbliebenen besteht nach Ansicht der Rettungsmannschaften kaum noch Aussicht, das Desaster überlebt zu haben. Ersten Augenzeugenberichten zufolge ereignete sich das Unglück wenige Stunden nach dem Auslaufen der Joola aus dem Hafen von Ziguinchor, der größten Stadt der südsenegalesischen Provinz Casamance. Wie inzwischen bekannt wurde, geriet das überladene Schiff auf dem Weg in das fast 500 Kilometer entfernte Dakar gegen elf Uhr nachts in einen Sturm und schlug binnen weniger Minuten um. „Alles passierte furchtbar schnell“, erzählt Moulay Badgi, den ein Fischkutter drei Stunden nach dem Unglück aus dem Wasser fischte. „Das Boot fing an zu zittern und drehte sich in fünf Minuten auf seine Unterseite: Ich hörte Kinder schreien und sah viele untergehen – es war grauenvoll.“ Den meisten der Überlebenden gelang es nach dem Umschlagen des Schiffes, auf dessen Unterseite zu klettern und sich dort bis zum Eintreffen der ersten Boote festzuklammern. „Mir klingen noch die Schreie der Menschen in den Ohre, die unter dem umgeschlagenen Boot gefangen waren“ sagt Badgi. Bei den Vermissten handelt es sich ganz überwiegend um Senegalesen und Bürger der Nachbarstaaten Guinea Bissau und Gambia. Aber auch einige Franzosen und Spanier sowie zwei Schweizer sollen an Bord gewesen sein.

Für Diatta ist der Grund für das Desaster offenkundig: Er macht die Nachlässigkeit der Behörden für die schlimmste Schiffskatastrophe in der Geschichte Senegals verantwortlich. Auf einer Überfahrt von Ziguinchor nach Dakar seien vor einigen Tagen bei einem Sturm ähnliche Probleme aufgetreten, sagt er. Dabei soll ein Schiffsmotor schwer beschädigt worden sein. „Die Fähre hätte danach unbedingt aus dem Dienst genommen werden müssen, sagt Diatta. Auch in den Zeitungen des westafrikanischen Landes wurden am Wochenende kritische Fragen über die Wartung der Fähre gestellt. Offenbar ist sie erst vor wenigen Wochen nach einer angeblich monatelangen Generalüberholung wieder in Betrieb genommen worden. Unbestritten ist, dass die staatlich betriebene Fähre mit Menschen wie mit Material überladen war.

Nach Angaben von Staatspräsident Wade befanden sich zum Zeitpunkt des Unglücks statt der eigentlich zugelassenen 550 Menschen mindestens 796 Passagiere und Besatzungsmitglieder an Bord. Viele der Passagiere seien offenbar gegen eine kleinere Barzahlung ohne Ticket an Bord gelassen worden, sagte der Präsident, der am Wochenende eine dreitägige Staatstrauer anordnete. „Ohne der Untersuchung vorzugreifen, kann ich sagen, dass eine Reihe von Fehlern zum Kentern der Fähre geführt haben“, sagte Wade. Der Staat akzeptiere seine Verantwortung und werde die Opfer so weit wie möglich entschädigen.

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