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Im Gefängnis: Eine Nacht hinter Gittern

Ein neuer Knast. An was Architekten da alles denken: Wandfarbe, Kameras, Privatsphäre – und Fluchtgefahren. Unser Autor war drin.

Die Tankstellenbesitzerin in Bremervörde weiß Bescheid: „Am Kreisverkehr links, dann drei Kilometer geradeaus und nach dem McDonald’s rechts, dann sehen Sie es schon.“ Mit „es“ meint sie das Gefängnis, oder auf Beamtendeutsch: die JVA – Justizvollzugsanstalt. Bremervörde in Niedersachsen besitzt seit wenigen Wochen den neuesten deutschen Knast. Und obwohl noch kein einziger Gefangener eingeliefert ist, wissen in der Stadt alle, was in den vergangenen Monaten vor ihrer Nase gebaut wurde. Ist ja nicht zu übersehen: eine Betonmauer, sechs Meter und fünfzig Zentimeter hoch, die Mauerkrone mit Nato-Stacheldraht gesichert. Dahinter zwei rote Gebäude in L-Form. Hier wohnen demnächst 300 Strafgefangene.

Am Eingang gebe ich alle elektronischen Geräte ab, auch mein Handy. Obwohl ich Gast des Niedersächsischen Justizministeriums bin, schriftlich eingeladen, muss ich mich den Regeln unterziehen. Mit mir gekommen sind Staatsanwälte, Richter, Techniker und Bauingenieure, die wie ich eine Nacht „Probeliegen“ wollen hinter Gittern. Manche kichern wie Kinder, andere mustern den Neubau, alle wissen, dass sie hier morgen wieder rausdürfen.

Der Flur im Untergeschoss, wo Angestellte uns Bettzeug, Handtücher, eine Kaffeetasse und Besteck aushändigen, riecht nach frischer Farbe. „Rot ist beruhigend“, sagt Rainer Wolters, mein Betreuer für die kommenden 16 Stunden. Er spielt an diesem Tag nicht nur Gefängnis. Der Justizvollzugsbeamte wird hier sein, wenn die ersten Insassen kommen.

Wolters begleitet uns auf die Zellen in Haus B, zweiter Stock, vorbei an hohen Gitterzäunen. Mit seinem elektronischen Schlüssel öffnet und schließt er mehrere Schleusen, am Ende sind es acht Türen, mehrere Zäune und die Betonmauer, die uns von der Außenwelt trennen. Meine Zellentür fällt mit 300 Kilogramm Gewicht ins Schloss, dann herrscht Ruhe. Ich messe den Raum mit meinen Schritten ab, fünfeinhalb sind es von der Tür bis zur Wand. Bei einer Breite von gut zwei Metern komme ich auf knapp zwölf Quadratmeter. Hinter einer hölzernen Schwingtür befindet sich die Nasszelle mit Toilette, einem kleinen Waschbecken und Blecheimer.

In der Zelle sind außerdem: ein Bett mit abwaschbarer Matratze, ein Tisch, ein Regal, ein Stuhl, ein Kühlschrank. An der Wand hängt ein Flachbildschirm, das ist die Grundausstattung meiner Zelle. Ein „Zuhause“, das so ähnlich rund 60 000 Menschen in 186 deutschen Justizvollzugsanstalten teilen.

Zwölf Quadratmeter sind für einen Häftling in Deutschland fast Luxus, in vielen Haftanstalten sind sechs bis acht Quadratmeter die Regel für eine Zelle, die bisweilen sogar doppelt belegt ist. Irgendwo bei vier Quadratmetern haben Gerichte die Menschenwürde festgelegt, darunter können selbst Schwerkriminelle den Staat auf Entschädigung verklagen. Eine Kommission, die „Nationale Stelle zur Verhütung von Folter“, prüft jedes Jahr die Gefängnisse der Republik und sammelt die Mängel in ihrem Jahresbericht. Im letzten Bericht war Bernau am Chiemsee (Bayern) Schlusslicht der Inspektoren: zwei Gefangene auf sieben Quadratmetern.

In etwa einer Stunde, so hat Wächter Wolters versprochen, werde er das Abendessen bringen. In Bremervörde kocht ein privates Cateringunternehmen. Alles, was nicht im engeren Sinne sicherheitsrelevant ist, machen Privatfirmen: Wäsche, Hausmeister, Ausbildung, ja sogar die Begleitung der Besucher von der Pforte zum Besucherzimmer – alles PPP, Privat-Public-Partnership, was dem klammen Staat hilft, Kosten zu sparen.

Pünktlich klopft Wolters an die Zellentür. Unter der Plastikhaube des Tabletts findet sich Graubrot, Schinken, Salami und Scheiblettenkäse. Sogar eine Tomatenscheibe mit Petersilienstängel hat der Koch dazugelegt, wohl als Gruß der Küche für die besondere Kundschaft der heutigen Nacht.

Die Gitter vor meinem Fenster sind aus gehärtetem Stahl, das Fenster lässt sich öffnen, und schemenhaft erkenne ich im Dunkeln die Umzäunung des Geländes, davor den Fußballplatz und die Basketballfelder. Ich könnte hinüberrufen zum anderen Trakt, in dem noch Licht in manchen Zellen brennt, aber lautes Rufen am Fenster verbietet die Hausordnung.

Alle Zellenfenster sind so angeordnet, dass man den Eingang der Haftanstalt nicht sieht. Das hat einen guten Grund, erklärt mir später der Münchner Architekt Michael Nusser, dessen Büro auf den Bau von Haftanstalten spezialisiert ist. „Gefangene sollen nicht sehen, wenn ein Polizeieinsatz geplant ist.“ Jedes Baudetail hat eine Bedeutung, jedes Material wird auf Sicherheit und Haltbarkeit geprüft. Die Justizbeamten bekommen einen Kurs in Metallakustik, um beim regelmäßigen Abklopfen der Gitterstäbe am Klang zu erkennen, ob daran gefeilt oder gesägt wurde. Flure müssen breit genug sein, damit zwei Wächter nebeneinander gehen können. Decken dürfen nicht abgehängt sein, damit sie keine Verstecke bieten. Tische im Besucherzimmer haben Glasplatten und durchgezogene Tischbeine, um Übergaben von Rauschgift oder Handys zu verhindern.

In meiner Zelle wird demnächst ein Mensch wohnen, der bis zu fünf Jahren hier verbringen muss. Für noch längere Haftzeiten gibt es andere Häuser, in Bremervörde werden nur mittelschwere Kriminelle untergebracht. In seiner Zelle darf mein Nachfolger einmal Bilder aufhängen, auch eine Tischdecke darf er besitzen und vielleicht eine Blumenvase. Allerdings nach vorheriger Genehmigung und in Abstimmung mit der REFA-Liste.

Die REFA-Liste (Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung von 1924) enthält für jeden Einrichtungsgegenstand ein Zeitmaß, wie lange es braucht, ihn zu kontrollieren. In einer Zelle dürfen sich nur so viele Gegenstände befinden, deren Kontrolle im Ernstfall nicht vier Stunden überschreitet. Weihnachtsbäume stehen beispielsweise nicht auf der Liste. In die ausgehöhlten Äste könnte Rauschgift gefüllt werden, somit „entstehe ein immens hoher Kontrollaufwand“, entschied das Kammergericht Berlin vor ein paar Jahren und verbot Christbäume in der JVA Tegel.

Gefängnisinspektor Dieter Rössner, der jährlich die Mängel prüft, hat auf seinen Kontrolltouren immer wieder erlebt, dass Häftlinge weniger aggressiv sind, „ja pfleglich mit den Dingen umgehen, wenn sie etwas in ihrem Haftraum gestalten können“. Rössner plädiert für mehr Farbe in den Haftanstalten („habe zu viel Grau gesehen“), für mehr Eigenverantwortung und zitiert einen Gefängnisreformer: „Ohne Ästhetik ist Resozialisierung nicht möglich.“

Inzwischen haben sich die meisten Beamten in Bremervörde schlafen gelegt. Wächter Wolters sitzt allein in einem Glaskasten vor unserem Zellentrakt und überwacht zwei Flure mit je 20 Zellen gleichzeitig. Die Hauptarbeit übernehmen nun 268 Kameras, die auf dem Gelände und in den Gemeinschaftsräumen installiert sind. Würde ich einen Ausbruchsversuch wagen, schon an der ersten Zaunanlage würde der Bewegungsmelder Alarm auslösen, Schwingungsdetektoren lenkten die beweglichen Kameras und Scheinwerfer auf die vermeintliche Ausbruchsstelle, und ich käme wahrscheinlich nicht einmal bis zur Stacheldrahtkrone.

Ich mache den Fernseher an. 16 Kanäle hat die Gefängnisverwaltung freigeschaltet, darunter auch Sender aus Russland, Albanien und der Türkei. Vom Bett aus kann ich mit ausgestrecktem Arm fast die Wand auf der Gegenseite berühren. Man muss sich selbst schon leiden können, um auf die Dauer in so engen Verhältnissen nicht durchzudrehen. Luxusherberge, Hotelstandard, Urlaubsaufenthalt – wann immer über Ausstattung und Freizeitmöglichkeiten deutscher Gefängnisse in populistischen Medien berichtet wird, fallen diese Begriffe. Je später die Stunde, desto weniger fällt mir ein, was mich hier an Urlaub erinnern würde.

Kurz vor sieben Uhr morgens klopft Wolters an die Stahltür. Er hätte auch die kleine Klappe in der Tür öffnen und hereinschauen können. Das mache er aber nur „bei Gefahrenlagen“ oder nach vorherigem Klopfen. So viel Rücksicht auf die Privatsphäre müsse sein. Die drei Duschen unseres Traktes sind von anderen Probegästen besetzt. Bleibt ein kurzer Rundgang durch die von allen Gefangenen genutzten Gemeinschaftsräume: eine kleine Teeküche, ein Aufenthaltsraum mit Tischkicker, eine Waschküche.

Wolters drückt mir zum Abschied die Hand. „Sie sehe ich hier nie wieder“, scherzt er. Wissen kann er es nicht. Er hat selbst von Fällen erzählt, „da war einfach etwas schiefgelaufen im Leben“. Zurück auf dem Parkplatz, vorbei an den Zäunen, durch acht Türen und Schleusen, drehe ich den Zündschlüssel um und gebe Gas. Am ersten Kreisverkehr empfinde ich allein die Auswahl an Straßen, die ich jetzt nehmen könnte, als Luxus.

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