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Den hinteren Teil des Zuges traf es am schlimmsten. Luftbild vom Unglücksort in Santiago de Compostela. Fotos: Reuters (2)

© REUTERS

Panorama: In den Taschen der Toten klingeln die Handys

Nach dem Zugunglück von Santiago de Compostela zeigen Videoaufnahmen und Fotos Bilder des Grauens.

Anwohner hörten ein Krachen, die Erde schien zu beben. Dann plötzlich unheilvolle Stille und Rauchsäulen. Am Unglücksort fanden die ersten Helfer ein Horrorszenario: umgestürzte und zertrümmerte Bahnwaggons. Einige hatten sich ineinander verkeilt. Die Wucht des Unglücks war so groß, dass ein Waggon mit Passagieren über eine zehn Meter hohe Schutzmauer geschleudert und teilweise zerfetzt wurde. Der letzte Waggon, an dem ein Triebkopf samt Dieseltank hing, brannte.

Videoaufnahmen und Fotos zeugen von dem Horrorunglück.

Der Schnellzug, der von der Hauptstadt Madrid in die nordspanische Fischerstadt Ferrol fahren sollte, entgleiste am Mittwochabend um 20.42 Uhr. Und zwar wenige Kilometer vor dem Bahnhof der berühmten Pilgerstadt Santiago de Compostela, in der Stunden später das Stadtfest für den Schutzheiligen Santiago eröffnet werden sollte. Das Unglück ereignete sich in einer Linkskurve, in der die Geschwindigkeit auf 80 km/h begrenzt war.

„Ich bin mit 190 gefahren“, soll der nur leicht verletzte Lokführer kurz nach der Katastrophe bei einer ersten Befragung zugegeben haben. Warum, sagte er offenbar nicht. Das Video einer Sicherheitskamera, in dem man sieht, wie der Zug mit großer Gewalt gegen eine Begrenzungsmauer kracht, scheint die Aussage des Mannes zu bestätigen. Wie dieses Überwachungsvideo an die Öffentlichkeit gekommen ist, ist noch unklar. Es wurde nicht offiziell veröffentlicht.

Weshalb reduzierte der Lokführer nicht wie vorgeschrieben das Tempo in dieser Kurve, die als schwierig galt? Warum raste er blindlings in die Katastrophe? Auch auf die Frage, warum es auf der Strecke kein automatisches Bremssystem gab, das heute vielerorts zum Sicherheitsstandard gehört, gab es zunächst keine Antwort. In dem Schnellzug mit 13 Waggons saßen etwa 220 Menschen. Auch ausländische Touristen reisten mit. Pilger, die nach Santiago wollten. Die Triebwagen des Zuges vom Typ Alvia können mit Strom, aber auch mit Diesel fahren, und eine Spitze von 250 km/h erreichen. Der Unglückszug hatte fünf Minuten Verspätung. War der Lokführer deswegen mit Vollgas gefahren?

Spaniens Verkehrsministerin Ana Pastor wandte sich gegen Spekulationen und mahnte zur Vorsicht: „Wir kennen noch nicht die Ursachen des Unglücks.“ Polizei und Bahningenieure untersuchten die Zugtrümmer. Die Ermittler hoffen, mit der Auswertung der „Blackbox“, in der alle Fahrdaten aufgezeichnet werden, Klarheit über den Hergang der Tragödie zu bekommen.

Die ganze Nacht bargen die Retter Verletzte und Tote. Darunter auch ausländische Reisende, deren Nationalität zunächst nicht bekannt wurde. Die Zahl der Todesopfer könnte noch steigen, warnten die Behörden, etliche Menschen schwebten in Lebensgefahr. Auch die Identifizierung mancher Leichen sei schwierig. Die Bevölkerung wurde zu Blutspenden aufgerufen.

Besonders schlimm hatte es den hinteren Teil des Zuges erwischt. Der gesamte Zugkonvoi war auseinandergerissen worden. Der Triebwagen und die ersten vier Waggons sprangen aus den Schienen und blieben im Gleisbett stehen. Ein Wagen in der Zugmitte wurde in die Luft geschleudert und landete hinter einer zehn Meter hohen Schutzmauer und fast im Vorgarten einiger nahe gelegener Häuser. Die hinteren Waggons überschlugen und verkeilten sich auf der Bahnstrecke.

Handys klingelten in den Taschen von Todesopfern, die am Bahndamm aufgereiht unter Tüchern und Decken lagen. Blutüberströmte Menschen wurden auf Bahren weggetragen.

Am Donnerstagmorgen kam Spaniens konservativer Regierungschef Mariano Rajoy zum Unglücksort. Leichenblass nahm er den Ort des Schreckens in Augenschein. Er versprach eine „schnellstmögliche Aufklärung“ der Katastrophe. Die Unglücksregion Galicien ist seine Heimat. König Juan Carlos sprach in einer Beileidsbotschaft an die Angehörigen der Opfer von einem „schrecklichen Unfall“, welcher die ganze Nation „mit Schmerz und Traurigkeit fülle“.

Die Region Galicien verhängte Staatstrauer. Das mehrtägige Volksfest in Santiago de Compostela, mit dem gerade der Namenstag des heiligen Santiago gefeiert werden sollte, wurde abgesagt. In der Stadt leben etwa 100 000 Menschen. Die Kathedrale des Ortes ist das Ziel von hunderttausenden Jakobspilgern, die jedes Jahr über den Jakobsweg nach Santiago wandern.

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