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Indien: Pilgerfahrt in den Tod

Der Monsun in Indien ist zwei Wochen früher gekommen – und hat das Gebirge ins Rutschen gebracht.

Fünf Tage ist Gopi mit ihrem Baby durch die Wälder und Berge geirrt, bis sie endlich ein Dorf erreichte. Sie habe Blätter gegessen, damit die Muttermilch nicht versiegt und das Kind nicht hungert, erzählt die erschöpfte Mittzwanzigerin Reportern. Die junge Mutter war auf einer Pilgerreise im heiligen Ort Gaurikund, als der verfrühte Monsun sie überraschte, der Fluss Mandakini aus seinem Bett ausbrach und alles mit sich riss.

Mehr als eine Woche ist es her, dass Sturzfluten und Erdrutsche den indischen Himalaya-Staat Uttarakhand verwüsteten. Doch nur langsam enthüllt sich das ganze Ausmaß der Tragödie. Mindestens 1000 Leichen wurden inzwischen geborgen. Viele weitere Tote dürften noch unter den Schlamm- und Geröllmassen begraben sein. „Die Berge haben sich in Friedhöfe verwandelt“, schrieb die Zeitung „Mail today“. Im Fernsehen war die Rede von einem „Tsunami der Himalyas“. Die Retter kämpfen gegen die Zeit. Noch immer sind 32 000 Menschen von der Außenwelt abgeschnitten und warten auf Hilfe. Viele Gestrandete sind seit Tagen ohne Nahrung und Trinkwasser. Das Militär hat Notpakete abgeworfen. Doch es konnte nicht alle Eingeschlossenen erreichen. Vor allem Kinder, Mütter und Alte sind am Ende ihrer Kräfte. Angehörige müssen mit ansehen, wie ihre Lieben langsam sterben.

Etwa 30 Millionen Besucher zählte Uttarakhand im vergangenen Jahr. Viele sind Pilger. Hunderttausende Inder kommen jedes Jahr zwischen Mai und November zur Pilgerfahrt „Char Dham Yatra“ nach Uttarakhand. Zu den Hauptzielen gehören die beiden Tempelstädte Badrinath und Kedarnath. Dort gab es auch die meisten Opfer.

Der Klimawandel verändert den Monsun

Umweltschützer sprachen von einer menschengemachten Katastrophe. In den vergangenen Jahren seien immer mehr Bäume gerodet, Straßen und Häuser gebaut worden. Das mache die Region anfällig für Katastrophen, wenn starker Regen falle, sagt Professor Maharaj K. Pandit von der Abteilung für Berg- und Mittelgebirgsumwelt an der Delhi-Universität. Auch der Klimawandel spielt eine Rolle. Jüngst veröffentlichte das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), eine Studie, nach der sich der indische Monsun stärker verändern könnte, als bisher angenommen. Anders Levermann, einer der Autoren der Studie, in der Simulationen mit 20 verschiedenen Klimamodellen verglichen werden, sagt: „Wenn der Regen erst als Sturzbach kommt, und danach herrscht Trockenheit, kann das fatal sein, auch wenn im Durchschnitt die Regenmenge gleich bliebe.“ In den Monaten vor der Flutkatastrophe stöhnten Indien und Pakistan unter einer Rekordhitzewelle.

Die rasant anschwellenden Flüsse rissen Autos, Lastwagen und halbe Dörfer mit. Brücken und Wege wurden weggespült, Telefonmasten und Stromleitungen umgelegt. Mehr als 1300 Straßen wurden beschädigt. Mit Sorge sehen die Helfer zum Himmel. „Wir befürchten, dass es wieder regnet“, sagte Armeechef Bikram Singh. Mehr als 8500 Soldaten sind im Einsatz. 70 000 Menschen wurden bisher in Uttarakandh gerettet, weitere 30 000 im benachbarten Bundesstaat Himachal Pradesh. 40 Hubschrauber sind im Einsatz, um Menschen aus den unzugänglichen Bergregionen auszufliegen. Andernorts versuchen Soldaten, Notbrücken über reißende Flüsse zu spannen oder in aller Eile Straßen zu flicken. Weil die Leichen in der feuchten Wärme bereits verfaulen, werden sie in Massen verbrannt, um Seuchen zu verhindern. Verzweifelt warten Angehörige auf Nachrichten. „20 Mitglieder meiner Familie werden vermisst“, sagt Kesari Prasad Shukla, der in Kedarnath eine Pilgerpension unterhielt. Er selbst schleppte sich mit einem gebrochenen Bein 14 Kilometer in Sicherheit. Ram Karni Beniwal verlor seine Frau in einem Erdrutsch. Er überlebte nur, weil er Schutz hinter einem Baum fand.

150 Sadhus, heilige Männer, von Gaurikund, die einen heiligen Schrein bewachen, kann dagegen auch die Katastrophe nicht in ihrem Glauben erschüttern. Sie weigern sich, den Ort zu verlassen. Vergeblich versuchten Retter die Sadhus zu überreden, auszufliegen. Die Männer lehnten entschieden ab. (mit deh)

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