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Interview mit Simon Kehrer: „Ich kann den Nanga Parbat nicht hassen“

Juli 2008: Drei Bergsteiger wagen sich als Erste an die Rakhiot-Wand im Himalaja. Einer von ihnen bleibt tot am Berg zurück. Simon Kehrer erzählt von der Nanga-Parbat-Expedition und zeigt Fotos.

Herr Kehrer, für Reinhold Messner sind Sie ein Wiedergeborener. Denn der Sinn des Bergsteigens, sagt er, sei, dem Tod zu entrinnen.



Wiedergeboren? Das will ich nicht sein. Ich bin einfach um eine Erfahrung reicher. Ich kenne jetzt meinen Körper besser, weiß, wie weit ich gehen kann.

Sie mussten Ihren Freund Karl Unterkircher tot in einer Gletscherspalte zurücklassen.

Die ersten Tage nach seinem Tod waren auch psychisch anstrengend. Aber als Bergsteiger bin ich Optimist, sonst würde ich wegen der vielen Gefahren erst gar nicht losgehen.

Holt Sie das nachts ein, heute, nach Monaten?

Nein, ich bin kein großer Träumer, ich schlafe fest. Ich stehe um 6 Uhr auf und bin viel aktiv unterwegs, die Nächte sind kurz. Doch wenn ich Karls Frau treffe und die drei lieben Kinder, dann wirbelt alles wieder in mir auf.

Sie haben mich durch Ihr Haus geführt, im Keller haben Sie eine Kletterwand, daneben stapeln sich Skier, Kletterschuhe, Haken, Seile, Eispickel, Rucksäcke. Sie arbeiten als Bergführer. Und wenn Sie aus dem Fenster schauen: nichts als Berge. Was war am Nanga Parbat neu für Sie?

Die Höhe des Himalaja, das sind ganz andere Welten als hier die Dolomiten. Wenn du auf 7000 Metern mit 18 Kilo auf dem Rücken rumläufst, das ist eine extreme Belastung. In der dünnen Luft spürt man jedes Gramm.

Auf den Fotos von Ihrer Rückkehr aus Pakistan sehen Sie stark gealtert aus, leerer Blick, ausgezehrt.

So fühlte ich mich gar nicht. Ich hatte drei Kilo verloren in sechs Wochen Expedition, mehr nicht, und fünf Tage später war ich schon wieder mit meiner Freundin klettern in den Bergen.

Machen Sie das alles mit sich selbst aus?

Ich bin niemand, der Hilfe sucht. Klar, man bekommt einen Psychologen angeboten, aber da würde ich nie hingehen. Meine Freundin hat mich moralisch unterstützt. Sie müssen wissen, der typische Bergsteiger ist ein Holzkopf. Wenn Sie aus dem Fenster sehen, das ist der Piz da Peres, dort ist mein Vater gestorben, als ich sechs Jahre alt war.

Er war auch Bergführer und kam durch eine Lawine um. Gehen Sie schon mal dort hin?

Dauernd, es ist mein Hausberg. Als ich mit 14 die Schule verließ, habe ich eine Lehre als Tischler gemacht. Wir sind um vier Uhr morgens los, sind die 800 Höhenmeter hochgestiegen, Sonnen aufgang schauen. Um halb acht waren wir in der Werkstatt und haben den ganzen Tag gearbeitet.

Diesen Sommer schrieben die Medien vom „Drama im Himalaja“. Sie kämpften sich nach Unterkirchers Tod mit Walter Nones neun Tage durch Schnee und Nebel. War Ihnen da oben klar: Die ganze Welt schaut auf uns?

Überhaupt nicht. Als wir in Gilgit ankamen, hatte ich zum ersten Mal ein Netz fürs Handy, prompt kam ein Anruf, ich meinte, das ist sicher meine Freundin. Es war ein österreichischer Journalist: „Spreche ich mit Simon?“ – „Ja“, sagte ich, „Sie haben sich sicher verwählt.“ – „Nein“, sagte er, „Sie sind gerade vom Nanga Parbat abgeholt worden, kann ich Sie interviewen?“ Ich fragte mich, woher weiß der das, und habe aufgelegt.

Der Alpinistenveteran Hans Kammerlander schwärmte von Unterkircher: „Einer der besten Bergsteiger seiner Zeit. Er geht so sicher.“ Doch schon am zweiten Tag stürzte er in eine Gletscherspalte. War das Unachtsamkeit, Pech?

Du siehst so eine Spalte eigentlich nicht. Wenn Sie hier über meinen Wohnzimmerteppich gehen, wissen Sie auch nicht, was darunter ist. Man kann eine Spalte höchstens ahnen, das sieht ein bisschen aus wie ein Knick in Papier. Dann stampfst du mit dem Fuß kräftig auf, ob da was ist, und über die kleinen Spalten geht man mit einem Schritt drüber.

Unterkircher sei „im Schnee vorausgegangen“ und, so war zu lesen, „plötzlich weg gewesen“.

Wir hatten kurz zuvor angeseilt eine schwierige Stelle durchklettert, und Karl wollte das Seil aufmachen, ich sollte im Schnee spuren, wir suchten einen Platz für unser Zelt. Es hatte viel Schnee, ich brach immer wieder knietief ein. Ich glaubte, einen guten Platz zu sehen, Karl meinte, weiter rechts einen zu entdecken. Wir waren bei guter Sicht fünf bis zehn Meter auseinander. Der Schnee war sehr matschig, komisch, auf 6400 Metern ist das nicht normal. Als er zu mir rüberqueren wollte, rief ich: Pass auf, ich bin eingesunken, da kann eine Spalte sein! Wie ich wieder hinschaute, war da ein drei Meter breiter Riss. Ich dachte nicht, dass es so tief wäre, ich denke nie das Schlimmste. Als ich dann an den Rand trat, bin ich erschrocken.

Das war gegen 16 Uhr. Wo war der Dritte, Walter Nones?

Etwas dahinter. Ich rief nach ihm: „Karl ist in einer Spalte!“ Wir haben alle Schnüre zusammengebunden – das Seil hatte ja Karl auf dem Rucksack – und ich bin runter. Am Ende der Spalte, nach etwa 15 Metern, ging es noch einmal 30 Meter tiefer. Ich wusste, wenn er da unten ist, finde ich ihn nie. Ich fing mit den Händen an zu buddeln. Nichts. Ich war fix und fertig. Wir hatten ja seit 36 Stunden nicht geschlafen, wir waren schon 2400 Meter auf gestiegen, jede Bewegung war total anstrengend. Mit dem Eispickel habe ich dann gestochert und etwas Weiches gespürt. Ich habe Karls Gesicht freigegraben. Da war nichts mehr zu machen.

Sie haben seinen Rucksack mitgenommen.

Wir brauchten das Satellitentelefon, sonst haben wir nur das Wichtigste auf uns verteilt: seine Kamera, das Seil.

Zwei Tage sind Sie an dieser Stelle geblieben. Weil der Chef der Expedition tot war, der Erfahrenste?

Eigentlich nicht. Hier auszuruhen, war vorgesehen, die Strapazen vom Vortag waren ja gewaltig. Dazu kam die Untersuchung der Spalte, das Abseilen, das Buddeln. Wir zwei haben dann die Gegend studiert, gehen wir gerade hoch wie geplant oder eher rechts hinaus …

… oder wieder zurück über die Rakhiot-Wand.

Da hing über der Wand dieser lange Eisbalkon mit seinen Rissen. Vor dem hatten wir Angst. Er hat immer wieder Lawinen und Steine entladen. Wir sagten, dieser Balkon hat uns die Gnade geschenkt und einmal gehalten, wir müssen ihn nicht noch einmal herausfordern – zu hohes Risiko.

Der Gipfel des Nanga Parbat war Ihr Ziel, es sollte Ihr erster 8000er werden. Und die gefährlichste Strecke lag hinter Ihnen. Haben Sie überlegt, ganz hoch zu gehen?

Für uns war der Gipfel abgeschlossen, als Karl abgestürzt ist.

In dem Film „Nordwand“ sagt ein Bergsteiger: „Oben ist alles, unten ist nichts.“

Karl war ein guter Freund. Wir sind zwar harte Burschen, aber da sagst du nicht mehr, wir gehen trotzdem hoch. Bei kommerziellen Expeditionen, da stirbt einer, okay, bleibt er eben liegen, und die anderen gehen weiter, sie haben ja bezahlt dafür. Wir haben noch gehofft, ein Hubschrauber würde Karl bergen. Damit er auf den Friedhof kommt. Aber auf mehr als 6000 Metern ist die Luft so dünn, da kann ein Hubschrauber nicht gut manövrieren. Wir haben daheim angerufen, um zu sagen, Karl ist tot.

Manche Alpinisten sagen, sie würden „Zwiesprache halten“ mit dem Berg. Haben Sie den Nanga Parbat beschimpft?

Der kann nichts dafür. Ich kann ihn nicht verfluchen und nicht hassen.

Er heißt auch „Killer Mountain“. Bei 290 Besteigungen haben 64 Menschen ihr Leben dort gelassen.

So ist die Natur. Für mich sind die Berge schön. Das siehst du nicht auf einem Foto, da musst du dort sein. Im Basislager stehst du zwischen Murmel tieren, Pferden, Edelweiß, und da ragt dieser Koloss vor dir auf mit all seinen Mythen, mittags glänzt er wie Gold, abends glüht er im Sonnenuntergang. Es ist ein Kunstwerk, von Gott geschaffen.

Sie sind dort fast umgekommen.

Die Sorge hatte ich nie. Wir haben einmal das Zelt zu weit weg von einem Sarak platziert, einem Eis turm, da hat der Wind immer Schnee auf uns geblasen, der drohte uns zu erdrücken im Zelt, wir haben mit der Kochpfanne um unser Leben gebuddelt. Ein Fehler von uns.

Sie stiegen bis 7500 Meter auf, um über eine bekannte Route mit Skiern abfahren zu können. Wie kalt ist es dort droben?

Meine Uhr hat im Zelt minus 8 Grad gezeigt. Draußen wird es minus 20 Grad gehabt haben, also nicht so kalt. Mein Schlafsack war zwar dünn, dafür aber leicht. Es ist ein Kompromiss: Was gut für die Sicherheit wäre, wiegt etwas, und Gewicht macht dich langsamer und ist deshalb gefährlich.

Sie haben mir vorhin ein Foto gezeigt, da hängt das Zelt ein ganzes Stück über einem Abgrund …

… der grob geschätzt 2500 Meter steil runter ging. Wir konnten nicht mehr Platz aus dem Eis hacken, dahinter kam gleich Fels. Wir haben die Skier auf den Boden gelegt, die ragten dann über die Eiskante, um die Fläche fürs Zelt zu vergrößern.

War das der gefährlichste Moment in diesen ins gesamt zehn Tagen auf dem Nanga Parbat?

Nein, das war die Abfahrt mit den Skiern, da hatten wir schlechtes Wetter. Erst scheint die Sonne, und innerhalb von fünf Minuten siehst du kaum die Hand vor Augen, nur Nebel. Wir hatten kein GPS, keine Karte, da ist alles Intuition. Wenn du da oben stehst und die Linie nach unten suchst, überblickst du sowieso nur 20 Meter. Zum Glück hatte ich Fotos gemacht und vergrößert gespeichert. Ein kleines Stückchen auf einem Foto ist eine Strecke von zwei Kilometern. An so einem Berg fühlst du dich wie eine Ameise.

Waren Sie froh, nicht alleine zu sein?

Sehr. Alleine hast du da oben keine Chance. An schwierigen Stellen brauchst du einen, der dich sichert. Und zu zweit kann man mal Witze machen, das hilft. Wir hatten zu dritt viel Blödsinn gemacht, und auch später ging der Humor nie verloren.

Auf über 7000 Metern, der sogenannten Todeszone, bauen sich Gehirnzellen ab, der Körper funktioniert nicht mehr normal.

Ja, du hast wenig Hunger und kaum Durst. Du musst dich richtig zwingen dazu.

Radfahrer müssen gigantische Mengen essen und trinken, warum Sie nicht?

Du sollst sechs Liter trinken am Tag. Doch um Wasser zu haben, musst du Schnee schmelzen. Das dauert mit dem Gaskocher für einen Liter eine Stunde. Walter und ich haben bis zu zwei Liter Wasser getrunken, schon da bist du in der Früh und am Abend immer zwei Stunden am Wasserschmelzen.

Und wie viel Nahrung gab es?

Am Tag mal zwei Müsliriegel und eine Handvoll Nüsse. Ab 7000 Metern regenerierst du nicht mehr. Du kannst schlafen, so viel du willst, der Körper ruht nicht mehr aus.

Für den Aufstieg zum Gipfel und wieder runter hatten Sie mit bis zu fünf Tagen gerechnet, dann wurden durch Unterkirchers Tod und das Wetter zehn daraus. Ein Hubschrauber warf zwei Pakete ab …

... und der erste Sack fiel 2000 Meter zu tief, der andere landete 80 Meter unter uns. Wir sind beim Aufstieg bis zur Hüfte in Schnee eingesunken. In sechs Stunden schaffst du da mit Mühe 150 Höhenmeter. Beim Auspacken des Sacks sah ich Gott sei Dank ein Telefon mit Ersatzbatterie! Den Rest haben wir liegen lassen. Ich nahm nur noch eine Schachtel Thunfisch mit und Schokolade.

Sie haben es schließlich geschafft, auf 5200 Meter abzufahren. Dort wurden Sie von einem pakistanischen Rettungshubschrauber abgeholt.

Die Schwierigkeiten waren da ja schon vorüber, wir hatten in der Nähe ein Zelt mit Gasflaschen und anderem Material, es konnte nichts mehr passieren. Das Wetter war schön, in einem Dreivierteltag wären wir im Basislager gewesen.

Karl Unterkircher hat in seinem Tagebuch notiert: „Wenn einer von uns dreien nicht zurückkehren würde, kämen Fragen wie: Was haben sie dort nur gesucht?“ Können Sie es mir erklären?

Ich will Berge nicht vom Balkon aus anschauen. Du siehst sie, und du willst da hoch. Und wenn du oben bist, ist das eine große Genugtuung.

Die „Neue Zürcher Zeitung“ schreibt: „Was Extrembergsteiger suchen, ist nicht der Tod selbst, sondern die Nähe des Todes – und damit das Leben.“

Ich habe nie den Tod gespürt. Du suchst dein Limit, darum geht es. Ich sehe in einem Berg nicht das Unmögliche, sondern ich suche nach dem Mach baren. Wir haben die Rakhiot-Wand einen ganzen Monat beobachtet und analysiert. Auch wenn sich noch niemand rangetraut hatte, wir wussten: Das geht. Und ja: Man will besser sein als die anderen.

Herr Kehrer, eben hat Ihre Mutter Teller mit Speck und Käse gebracht. Und Sie machen ihr Kummer.

Ja, sagen wir: Sie ist es gewöhnt vom Vater, der auch Bergführer war, auch mal im Himalaja. Meine Schwester sagt, die Mutter sei ganz cool gewesen diesmal.

Wenn man mit Ihrer Mutter redet, hört sich das anders an: Sie hat Albträume und hofft, dass Sie aufhören. Karl Unterkircher sei schon der zweite Freund, dessen Tod Sie miterlebten.

Aber die Berge sind meine Leidenschaft, mein Beruf. Wenn du mir das nimmt, das ist, wie ein Wildtier einzusperren. Die sterben schön langsam.

Ende September stand in den „Dolomiten“: „Die böse Überraschung flatterte jetzt ins Haus: Sie sollen 33 500 Euro bezahlen“ – für die Helikopter.

Schon in Islamabad haben uns Journalisten gefragt: Wer bezahlt das alles? Da hast du gerade einen Freund verloren, und dann solche Fragen! Wir hatten gehofft, wenn wir das Geld aus unserer privaten Tasche hinlegen, geben die Leute Ruhe. Aber die Polemiken gehen an die Nerven.

Was kostet so eine Expedition?

Wir haben mit 15.000 bis 20.000 Euro pro Nase gerechnet, ich habe das Geld zusammengekratzt.

Reinhold Messner hat später gesagt: „Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt so weit gekommen sind, das sind exzellente Bergsteiger.“

Ich empfinde es als große Ehre, von solch einem Mythos Komplimente zu bekommen.

Waren Sie eigentlich mal länger in einer Stadt?

Nein, schon in Bozen brauche ich fast ein GPS. Ich fühle mich da unsicher, so durchs Dorf zu gehen. Wissen Sie was? So viel wie in den vergangenen Stunden rede ich sonst die ganze Woche nicht.

Das Gespräch führte Norbert Thomma. Um Simon Kehrers Fotos von der Nanga-Parbat-Expedition zu sehen, klicken Sie bitte oben links auf den Link "Fotostrecke: Simon Kehrers Bilder".

Interview: Norbert Thomma

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