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Panorama: Istanbuler Nächte sind lang

Die islamische Regierung will mit drastischen Steuern gegen das Feiern und Tanzen vorgehen

Im Istanbuler Vergnügungsviertel Beyoglu werden die Nächte immer teurer. Die Steuern auf Bier, Wein und den türkischen Nationalschnaps Raki steigen unaufhörlich, und jetzt müssen Bars und Restaurants mit Live-Musik auch noch eine monatliche Sondersteuer von 260 Euro zahlen. Das hat Methode, vermutet Barbesitzer Zeki Ates. „Das ist Staatspolitik. Sie wollen den Vergnügungssektor fertig machen.“ Nicht nur Ates glaubt, dass die islamisch geprägte Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan religiöse Vorstellungen stärker im Alltag des Landes durchsetzen will.

Die Barbesitzer suchen auch deshalb politische Motive hinter der Sondersteuer in Beyoglu, weil das Istanbuler Nachtleben mit seiner facettenreichen Musikszene in den letzten Jahren zu einem Anziehungspunkt für Besucher aus der ganzen Welt geworden ist – und deshalb eigentlich eher gefördert als bestraft werden sollte. In Istanbuler Clubs treffen sich Jazz, Rock, Hip-Hop und traditionelle türkisch-orientalische Stilrichtungen wie die sentimentale Arabesk-Musik. DJs aus Istanbul gastieren in vielen Clubs in Deutschland und anderen Ländern Westeuropas. Auch der neue Film des deutsch-türkischen Regisseurs Fatih Akin, „Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul“, befasst sich mit den Stilrichtungen, Gegensätzen und Geheimnissen der Stadt am Bosporus. Der Film, der am 9. Juni in die Kinos kommt, dürfte das Interesse an Istanbul weiter steigen lassen.

Die Behörden im Stadtteil Beyoglu, der von Erdogans islamisch-bürgerlicher AK-Partei regiert wird, sehen trotzdem keinen Grund, an der Sondersteuer für Live-Musik etwas zu ändern. An vergleichbaren anderen Orten seien die Steuern noch wesentlich höher, erklärten sie ungerührt.

Nicht nur in Istanbul wächst bei manchen Türken der Verdacht, dass die fromme Erdogan-Regierung das Land islamischer machen will. Beim kürzlichen Verbot mehrerer Porno-Sender im Fernsehen sahen Kritiker ebenfalls die Regierung am Werk. Die Verbotsbegründung der Fernsehaufsichtsbehörde RTÜK in Sachen Playboy TV und drei anderen Sendern klang in der Tat reichlich schwach. Aufgrund von Beschwerden habe man sich entschlossen, die Sender aus dem Angebot der von Millionen Türken genutzten Satelliten-Plattform Digitürk zu streichen, erklärte RTÜK. Doch wer soll sich beschwert haben? Die vier Erotik-Sender waren nur nachts und dann auch nur für zahlende Abonnenten zu sehen. Niemand musste um seine Kinder fürchten.

Energisch bestreitet RTÜK, auf Weisung der Erdogan-Regierung gehandelt zu haben. Doch eine direkte Weisung muss es auch nicht gegeben haben. Die RTÜK-Führung hänge ihr Fähnchen gerne in den Wind und richte ihre Entscheidungen nach dem Geschmack der jeweiligen Regierung aus, kommentierte eine Zeitung. Erst vor kurzem hatte die RTÜK-Führung eine strengere Überwachung von Reality-Shows angekündigt, die sie als Ausgeburt eines wildgewordenen Kapitalismus brandmarkte. Wenn mit dem Porno-Verbot konservativ-islamische Wertvorstellungen transportiert werden sollten, ist der Versuch aber fehlgeschlagen. Seit der RTÜK-Entscheidung sind die Sex-Sender, die vorher in der Öffentlichkeit kaum aufgefallen waren, plötzlich in aller Munde. Das Thema wird zum Ärger der strengen Sittenwächter so bald auch nicht von der Tagesordnung verschwinden: Digitürk will gegen das Verbot klagen, wenn die Entscheidung nicht zurückgenommen wird.

Anders als bei der Debatte über die Sex-Sender ist bei den Preisanhebungen für Alkohol der klare Wille der Regierung zu erkennen, die Türken auf den Pfad der Tugend zu bringen. Die Steuern auf Bier sind in den letzten zwei Jahren um 450 Prozent angehoben worden. Auch Wein ist in der Türkei wesentlich teurer als etwa in Westeuropa. Beim Raki gab es innerhalb der letzten drei Jahre nicht weniger als acht Preiserhöhungen – dies war einer der Gründe, weshalb viele Türken den billigeren, gepantschten Raki kauften, der in den letzten Monaten fast 30 Menschen das Leben kostete.

Offiziell sagt die Regierung Erdogan zwar, die Steuererhöhungen seien notwendig, um dem Staat mehr Einnahmen zu verschaffen. Doch es fällt auf, dass die Regierung bei Steuern auf alkoholische Getränke besonders herzhaft zulangt. Finanzminister Kemal Unakitan wurde von der Presse mit den Worten zitiert, die Regierung könne den Bürgern das Trinken nun einmal nicht verbieten – deshalb bleibe nur die Möglichkeit, die Alkoholsteuern zu erhöhen.

In der türkischen Öffentlichkeit kann von einer stärkeren Islamisierung des Alltags aber keine Rede sein. Jeden Tag zieren Fotos barbusiger Frauen die Seiten türkischer Boulevard-Blätter, und in den Supermärkten steigt die Auswahl an alkoholischen Getränken trotz aller Preiserhöhungen stetig an. Die Türken lassen sich das Trinken offenbar nicht vermiesen.

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