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1350 Tänzerinnen und Tänzer führt sie an. Rayana Caroline Barbosa, dritte Fahnenträgerin der Sambaschule „Unidos da Tijuca“.

© Philipp Lichterbeck

Karneval in Rio: Das Mädchen aus der Favela

Die 19-jährige Rayana Caroline Barbosa ist die Ärmste in ihrer Sambaschule – am Sonntag hat sie als dritte Fahnenträgerin ihren großen Auftritt im Sambodrom von Rio.

Rayana Caroline Barbosa druckste herum. Ob man sich nicht irgendwo in der Stadt treffen könne anstatt bei ihr zu Hause. Schließlich beschrieb sie doch den Weg durch das Labyrinth ihrer Favela. „Ich wohne in einer Baracke“, schob sie hinterher. „Ich bin die Ärmste der ganzen Sambaschule.“

Rayana Barbosa lebt in der Favela do Borel, die sich einen steilen Berghang im Norden von Rio de Janeiro hinaufzieht. Besucher steigen Betontreppen empor, laufen durch stinkende Gässchen, in denen sie die Arme nicht ausbreiten können, in denen sie sich verirren. Irgendwann steht man vor der Metalltür zu einem winzigen einstöckigen Haus aus rohen Ziegeln. Es ist eingeklemmt zwischen anderen improvisierten Behausungen, herumliegendem Schutt und einem offenen Abwasserkanal. Auf der anderen Seite der Tür kläfft ein Köter. Rayana öffnet. Sie trägt abgeschnittene Jeans und Flipflops.

An diesem Sonntag wird Rayana Barbosa eine ganz andere Tür aufstoßen. Sie wird erstmals ins ausverkaufte Sambodrom von Rio de Janeiro treten. 90 000 Zuschauer werden auf den Rängen jubeln, Millionen von Brasilianern an den Fernsehschirmen kleben. Sie werden jeden Schritt verfolgen, den Rayana mit ihrem Tanzpartner tut – und besonders auf eins achten: Wird die blaugelbe Fahne, die Rayana im Gürtel trägt, immer offen und in Schwung bleiben? Oder wird der 19-Jährigen ein Fehler unterlaufen und der glänzende Stoff sich einwickeln? Oder Rayana gar stolpern und stürzen, wenn sie ihre derwischgleichen Drehungen vollführt? „Ich bin aufgeregt“, sagt Rayana. Sie setzt sich im Schneidersitz auf ihr Kinderbett, das mehr als die Hälfte ihres winzigen Zimmers einnimmt. „Aber noch mehr freue ich mich auf die Titelverteidigung.“

Rayanas Sambaschule „Unidos da Tijuca“ gewann 2012 den Wettbewerb der Sambavereine von Rio. Nun tritt der traditionsreiche Verein mit dem Thema „Verzaubertes Deutschland“ an. Rayana kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Sie ist eine Porta-Bandeira, eine der drei Fahnenträgerinnen der Unidos, die jeweils einen Block mit 1350 Tänzern anführen. Rayana wird ein kostbares blaues Kostüm mit Federn, Rüschen und glitzernden Accessoires tragen. Der Dress ist handgenäht, wiegt 20 Kilo und Rayana schaut darin aus wie eine Mischung aus ausgeflippter französischer Hofdame und Science-Fiction-Herrscherin. „Ich sehe mich als Blauen Engel“, sagt sie.

Rayana ist die dritte Porta-Bandeira der Unidos. Daher kann sie nicht um den Preis für die „Beste Bannerträgerin“ konkurrieren. Nur die jeweils ersten und zweiten Porta-Bandeiras jeder Schule kommen dafür infrage. Unter den Schulen tobt daher ein harter Kampf um die besten Tänzerinnen, es geht zu wie im Profifußball, mit Ablösesummen und Gehältern. Die erste Porta-Bandeira der Unidos ist die 37-jährige Giovanna Justo. Sie stammt aus der Favela Mangueira, wohnt heute aber in der Barra da Tijuca, der wohlhabendsten Gegend von Rio. Die Sambaschule zahlt ihr ein monatliches Auskommen.

„Ich will erste Porta-Bandeira werden“, sagt Rayana Barbosa. Sie verschlingt ein Stück Zitronenkuchen und trinkt Limonade. „Aber nicht beruflich, ich möchte Recht studieren.“ Rayana besitzt einen erstaunlich trockenen Realismus. „Ich bin ein Favela-Mädchen“, sagt sie. „Man kriegt im Leben nichts geschenkt.“

"Favelas existieren, damit die Armen einen Platz haben"

Rayana probt mit ihrer Sambaschule in Rios Hafenviertel. Ein Wolkenbruch geht nieder und sie sucht durchnässt und ausgepowert Schutz in einer Toreinfahrt. Es ist schon nach Mitternacht und sie meint, dass sie jetzt noch anderthalb Stunden mit dem Bus nach Hause fahren müsse, die meisten anderen hätten Autos. Es ist keine Klage, nur der Hinweis darauf, dass sie ein Original ist. In Rayanas Armenviertel, der Favela do Borel, wurde die Sambaschule Unidos da Tijuca 1931 gegründet. Aber Rayana ist eine der wenigen, die noch von dort stammen. Der Präsident der Schule verlegte das Clubhaus vor einigen Jahren näher ans Zentrum, weil er entnervt war von der örtlichen Drogengang. „Wenn ein Bandit erschossen wurde, herrschte eine Woche lang Trauer. Dann durften wir nicht trainieren“, erinnert sich Rayana. Der Umzug war jedoch auch symptomatisch für die Kommerzialisierung der Szene.

Rayana tanzt, seit sie sich erinnern kann: Samba, Ballett und Breakdance. „Manchmal ging ich auch zum Baile Funk“, sagt sie. Dies waren früher von Drogengangs organisierte Tanzveranstaltungen mit hartem brasilianischem HipHop. Dann schloss sich Rayana der Jugendabteilung von Unidos da Tijuca an und gewann die Auszeichnung „Beste Nachwuchsfahnenträgerin“. Damit war der Weg zu den Großen geebnet. Das Talent scheint in der Familie zu liegen: Rayanas Bruder ist in einer anderen Sambaschule der Carnevalesco, der Dramaturg. Und Rayanas Vater komponierte Sambamusik, bevor er zu einer evangelikalen Kirche ging, die den Karneval für Teufelszeug hält.

Hoch über der Stadt. Die Tänzerin vor ihrer Baracke in der Favela do Borel.
Hoch über der Stadt. Die Tänzerin vor ihrer Baracke in der Favela do Borel.

© Philipp Lichterbeck

In einer Ecke von Rayanas Zimmer – zwischen dem Durchbruch zum Wohnzimmer und der Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern – lehnt die Fahne der Unidos. Rayana breitet sie auf ihrem Bett aus. In der Mitte prangt ein Pfau, Wappentier der Schule und Symbol für Schönheit und Reichtum. Rayana lebt seit ihrer Geburt in der Favela. Ihr Zimmer in dem Haus, das ihr Vater gebaut hat, misst sechs Quadratmeter und hat keine Fenster, neben ihrem Bett steht ein alter Computer, an der Decke dreht sich ein klappriger Ventilator. „Das Leben hier ist nicht das beste“, sagt Rayana. „Aber man kann überleben. Favelas existieren, damit die Armen einen Platz haben.“

Vor drei Jahren besetzte eine Einheit von Rios sogenannter Friedenspolizei Rayanas Viertel, um sie der Herrschaft der Drogengang Rotes Kommando zu entreißen. Fünf Polizisten langweilen sich heute in schusssicheren Westen auf dem ehemaligen Drogenverkaufsplatz des Armenviertels, in dem 20 000 Menschen leben sollen. „Der Handel geht trotzdem weiter“, sagt Rayana beim Rundgang. „Aber es wird nicht mehr geschossen. Das ist Fortschritt für uns.“

Am Sonntag, irgendwann ab 23 Uhr, wird Rayana unter ohrenbetäubendem Jubel mit ihrer Fahne ins Sambodrom einlaufen. Genau 80 Minuten wird sie tanzen und mehrere Liter Wasser schwitzen. Anschließend entscheidet die Führung der Sambaschule, ob Rayana dritte Porta-Bandeira bleibt, aufsteigt oder rausfliegt. Auch ihr Vater werde dann seiner Kirche trotzend vor dem Fernseher sitzen und ihr die Daumen drücken. „Heimlich“, sagt Rayana.

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