zum Hauptinhalt
WIRECENTER

© Joe Kramer

Karneval: Jeder Jeck ist anders

Wer sind die Urväter des Karnevals? Die Kölner, die Mainzer, die Düsseldorfer? Alles falsch. Wer die Wahrheit wissen will, muss den weltweit ersten türkischen Narrenverein im Ruhrgebiet besuchen.

Die Tür geht auf, ein Ritter mit goldenen Tressen ruft: „Hellas, helau!“ Seine schwarze Lockenperücke kippt bedenklich nach hinten, es ist genau 23 Uhr. Eine große Blonde nimmt den Gast und seine zwei Begleiter breit lächelnd in Empfang, sie überragt den Ritter um einen Kopf, sie überragt alle hier.

Hellas, helau! Darauf muss man erst mal kommen, hier, im Niemandsland zwischen Hagen und Wuppertal, wo soeben Deutschlands erster türkischer Karnevalsverein seinen ersten öffentlichen Auftritt erlebt, und zwar, was die Sache erheblich verkompliziert, inmitten einer Karnevalssitzung von Ruhrgebietsjecken mit griechischem Migrationshintergrund. Der Ort heißt Gevelsberg, aber eigentlich ist er der Olymp des Ruhrgebiets, Hauptstützpunkt aller Griechen. Mindestens 350 Gäste sind da, fast alle Hellenen. Die große Blonde wird am Aschermittwoch wieder ein Mann sein und ein ganz normaler Zahnarzt in Bochum. Sie streicht die schwarzen Brusthaare unter den tiefen Ausschnitt ihres hellblauen Shirts und steckt die Frotteesockenfüße tiefer in die Badelatschen Größe 46. Angelous Tsiokas ist ihr Name. Sie war es, die die Türken eingeladen hat, aber dass die nicht getürkt sind, glaubt sie erst jetzt, wo sie den schwarzen Ritter in den Armen hält. Sein Name ist Yalcin Bayram. Bayram heißt auf türkisch Fest. Bayram, das Festtagskind. Der Name ist echt.

Der Karneval hat in diesem Jahr gelernt, den Türken zu misstrauen.

Es war Anfang Januar, als eine Meldung durch die Presse des Rheinlands ging, derzufolge die Gründung des ersten türkischen Karnevalsvereins in Deutschland unmittelbar bevorstand. Das Festkomitee des Kölner Karnevals ließ daraufhin mitteilen, dass es diesen Schritt grundsätzlich begrüße, und vergaß auch nicht zu erwähnen, dass es sich zweifelsohne um einen „weiteren Schritt zur Integration“ handele. Skeptiker von der rechten Bürgervereinigung „Pro Köln“ dagegen befürchteten ein „generelles Alkoholverbot bis Ende Februar“ und „Burkapflicht“ für alle Närrinnen, sollte der unheimlichen Ankündigung die Tat folgen.

Sie folgte.

Sie kamen zu dritt, genau wie jetzt Yalcin Bayram, Aykut Akköse und Mohammadi Akhabach. Auf ihrer ersten Pressekonferenz im Januar forderten sie unter anderem eine „Türkenquote“ für den Kölner Karneval und schlugen vor, das traditionelle Dreigestirn – Prinz, Bauer und Jungfrau – um einen obligatorischen Türken zu erweitern. „Pro Köln“ stöhnte auf. Als Karnevalswagen wurde ein tiefergelegter 3er-BMW mit Schnauzbart auf der Motorhaube präsentiert.

Tage später war klar: Es gibt gar keinen türkischen Karnevalsverein. Sondern nur ein Comedy-Trio von RTL. Drei Deutsche hatten sich einen Karnevalsscherz erlaubt. Doch für einen Rheinländer hört beim Karneval nun mal der Spaß auf, so auch für den Dortmunder Bayram und den Beckumer Akköse. Aykut Akköse hatte gerade erst seinen Karnevalsprinzentitel 2008 an den neuen Beckumer Karnevalsprinzen übergeben. So ein regierender Prinz ist die wichtigste Person der ganzen fünften Jahreszeit, ein Jahr lang war der 33-jährige Bauunternehmer gewissermaßen die wichtigste Person ganz Beckums. Akköse, ein Kind des Ruhrgebiets wie Bayram, hatte schon als Kind Karneval gefeiert – und war entsetzt darüber, dass die Deutschen über die Vorstellung lachten, ein Türke könnte etwas mit Karneval zu tun haben. „Ja, wo leben die denn?“, ruft der Erste Vorsitzende des weltweit ersten türkischen Karnevalsvereins, und in seiner Stimme liegt die ganze Empörung eines emeritierten Karnevalsprinzen. Die schwarze Perücke des Zweiten Vorsitzenden droht vor genickter Zustimmung wieder den Halt zu verlieren.

Die große Blonde öffnet noch einmal die Arme zum inzwischen dritten Willkommen. „Ich hab’s gewusst! Euch geht es genau wie uns. Uns traut auch keiner zu, dass wir Karneval feiern.“

„Haben wir ja auch nicht immer gemacht“, sagt ein schon etwas älterer griechischer Philosoph, im zivilen Leben Hotelbesitzer, und schlägt vor, jetzt nach oben zu gehen und sich umzuziehen. Schließlich sei es gleich zwölf, und da müsse man als griechische Militärkompanie auf die Bühne.

Die Aula der Grundschule Vogelsang Gevelsberg ist gerade groß genug für eine griechische Karnevalsfeier. Drinnen tanzen Brüder und Schwestern von Alexis Sorbas, auch deutsche Brüder und Schwestern. Nebenan in der Künstlergarderobe steht eine sehr große trojanische Kuh. Die Kuh war die Hauptattraktion der letzten Bühnennummer, und der griechische Philosoph beginnt nun, die Angebotsmängel deutscher Baumärkte bezüglich der Verfertigung lebensechter Weidetiere zu erläutern. Immerhin ist in den letzten Monaten die Energie der meisten Gevelsberger Griechen in diese Aufgabe geflossen.

Die Menschen unterscheiden sich danach, ob sie die wesentlichen Dinge des Lebens von den unwesentlichen trennen können. Das Wissen, dass die Herstellung trojanischer Kühe zur ersten Kategorie gehört, verbindet alle Anwesenden. Die drei Türken besehen sich das Rind mit stiller Anerkennung. So weit sind sie noch nicht. Noch lange nicht. Akköse wollte zwar ohnehin einen türkischen Karnevalsverein gründen, aber erst nächstes Jahr. Weil eine so ernste Sache gründlich vorbereitet werden will. Ohne ihre Empörung hätten Akköse, Bayram und die fünf anderen die Gründung nie so übereilt. Aber im Januar wussten sie: „Jetzt! Es muss jetzt sein.“ Sie kannten sich vorher gar nicht, sie sind sich zufällig beim Fußballspiel Dortmund gegen Leverkusen begegnet. Man redet viel beim Fußball, auch mit Fremden.

Die große Blonde beginnt sich ausführlich zu entkleiden, um dann die Uniform anzuziehen. Die Frau des hotelbesitzenden Philosophen muss sich binnen Minuten von einer Fee in eine hochschwangere Rekrutin verwandeln. Falls die hospitierenden Türken dieses karnevalistische Tun beunruhigend finden, so zeigen sie es nicht. Carne vale heißt schließlich: Fleisch, lebe wohl! Manche sagen zwar, das habe einen Bezug zu den fleischlosen Speisevorschriften der christlichen Fastenzeit, aber warum soll das eigene Fleisch nicht auch einmal wohlleben? Zumal in jenen großen, leibfeindlichen Religionen, die nur einen Gott kennen. Der Katholizismus, ein sehr lebenskluger Glaube, duldet die alten heidnischen Bräuche, die wie die meisten Feste mehrere Wurzeln haben, die Austreibung des Winters inklusive.

Die Griechen und die Türken sind ohnehin die Urväter des Karnevals. Denn die Leibfrömmigkeit und das Hohelied des Lachens kommen von den alten Griechen, und die wichtigsten alten Griechen wohnten an der heutigen türkischen Küste. Dionysos ist der ewige Schirmherr aller Ausschweifung, auch Bacchus genannt, der Rufer, weil sein Gefolge so viel Lärm macht. Noch heute ist der Karneval im Ruhrgebiet erst zu Ende, wenn am Aschermittwoch Bacchus beerdigt wird. Als Strohpuppe.

Der inzwischen halb ent- und halb neubekleidete Zahnarzt berichtet, wie die Gevelsberger Griechen vor sechs Jahren begannen, Karneval zu feiern. Es hatte irgendwann keinen Spaß mehr gemacht, jedes Jahr alle griechischen Festtage hoch- und runterzubuchstabieren. „Am Anfang haben wir noch darum gekämpft, dass sich alle verkleiden. Jetzt traut sich fast keiner mehr, anders zu kommen.“

In der Ecke sitzt ein kleiner Italiener, als Mexikaner verkleidet. Maurizio spielt Gitarre und beobachtet das sich formierende griechische Militär. Maurizios Eltern kommen aus Neapel, er selbst kommt aus Gevelsberg, und wenn die Griechen griechisch reden, versteht er kein Wort. Aber das macht nichts: „Ich merke genau, wo ich lachen muss.“

Die drei türkischen Delegierten merken das auch, als das griechische Heer auf der Bühne steht. Der Zahnarzt trägt als einziger griechischer Soldat kurze Hosen, Highheels und Netzstrumpfhosen. Sein Vater Dimitrios Tsiokas übersetzt live die Bühnendialoge seines Sohnes. Die Türken erfahren, dass „Poly“ im Griechischen nicht nur „viel“ bedeutet, sondern auch das männliche Geschlecht. Dann hören sie mit noch größerer Spannung die Geschichte, wie Dimitrios Tsiokas ins Ruhrgebiet kam, in die Wittener Thyssen-Werke, noch vor seinem Bruder, dem heutigen Hotelbesitzer.

Er kam aus dem kleinen Ort Drama bei Thessaloniki, 1962. Und es wurde ein Drama, wie es sich in so vielen Familien immer anders und doch immer gleich wiederholte. Dimitrios Tsiokas war siebzehn Jahre alt, als er deutschen Boden betrat, weshalb er nur eine Mark fünfzig Stundenlohn bei Thyssen bekam. Mit acht anderen Gastarbeitern teilte er ein Zimmer. Sein Vertrag war auf ein Jahr befristet und wurde immer nur um ein Jahr verlängert. Akköse und Bayram hören mit einem Ernst zu, der aus der Tiefe gemeinsamer Erfahrung rührt. Dann erzählen sie die Geschichte ihrer Väter, die wie die anderen Türken erst Ende der sechziger Jahre eintrafen. Da ist es schon weit nach Mitternacht. Auf die Geschichten der Väter folgen die Geschichten der Söhne, die es viel leichter hatten. Alle Mitte dreißig, selbstständig, Mittelstand und bar jeder Lust, ihre Frauen und Kinder zu unterdrücken. Oder irgendwelche Dschihads zu führen. Ihre Väter sind stolz auf sie.

Der dritte türkische Delegierte trägt einen roten Fez und ein rotes Shirt mit den türkischen Nationalsymbolen. Ist es originell, wenn Türken sich als Türken verkleiden? „Aber ich bin doch gar kein Türke“, sagt Akhabach, „ich bin Marokkaner!“ Den Unterschied kann nur ein Deutscher übersehen, genau wie den zwischen Türken und Griechen. Einen Moment lang schweigt der hübsche Jungenmund des dritten Delegierten, um dann im Tonfall eines tragischen griechischen Helden zu erklären: „Ich war fünf Jahre alt, als ich am 19. Dezember 1979 auf dem Düsseldorfer Flughafen landete, und es war arschkalt. “

„Ich war noch gar kein Jahr alt“, hebt Yalcin Bayram an, „als ich zum ersten Mal deutschen Boden betrat, und es war wunderbar warm.“

Heimat, das ist vielleicht gar keine Ortsbestimmung, das ist zuerst eine Temperaturbestimmung. Die spezifische Wärme des Karnevals haben alle hier schon als Kinder gespürt. Für Bayrams Vater bedeutete es noch eine große Ausgabe, dem Sohn das erste Karnevalskostüm zu kaufen. „Ich ging als Cowboy, da war ich fünf.“

Es ist kurz vor drei Uhr, als Prinz Akköse einfällt, dass man den Verein „Döner Alaaf“ hätte nennen sollen statt „Erste Türkische Narrenzunft Dortmund 09“.

„Ich hab’s“, sagt Ritter Bayram: „,Horst, der Döner!‘ Das ist doch gut.“

„Das ist wirklich gut“, wiederholt Prinz Akköse.

„Was ist schon Bernd, das Brot, gegen Horst, den Spieß?“, fragt die Soldatin in Netzstrumpfhose. „Wisst ihr was, Kinder, ich werde bei euch Mitglied!“

Akköse hat in der letzten Woche schon der BBC Interviews gegeben und mit einem der bekanntesten Manager Deutschlands Bier getrunken. „Und der bestand darauf, dass ich Du zu ihm sage!“

„Was – du, Horst?“

„Quatsch. Kennst du einen Manager, der Horst heißt?“

Gestern befand sich der weltweit erste türkische Karnevalsverein an fünfter Stelle des Dortmunder Rosenmontagszugs. Noch ging er zu Fuß. Obwohl Bayram Autohändler ist. Für BMW.

Morgen früh beerdigen sie Bacchus. Wie alle Griechen.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false