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Panorama: „Katrinas“ willige Vermisste

Warum manche Opfer des Hurrikans vor sieben Monaten in den USA gar nicht gefunden werden wollen

Sieben Monate sind seit Hurrikan „Katrina“ vergangen. Aber noch immer wirbelt der Sturm das Leben hunderter Familien durcheinander. Das Schicksal rund 10 000 Vermisster konnte geklärt werden, die offizielle Totenzahl im gesamten Staat Louisiana ist auf erstaunlich niedrige 1292 gesunken – direkt nach „Katrina“ hatte man eine fünfstellige Zahl von Opfern befürchtet. Aber noch immer ist der Verbleib mehrerer hundert Menschen ein Rätsel. Nach einem Bericht der „Washington Post“ deutet alles darauf hin, dass die meisten von ihnen gar nicht gefunden werden wollen. Oder dass umgekehrt ihre Angehörigen sie nicht wiedersehen möchten.

Die typische Geschichte des Suchdienstes hat sich verdreht. Anfangs war es die Wiedersehensfreude vermisster Kinder und vermisster Eltern, die ihre Liebsten schon tot glaubten und nun in die Arme schließen können. Heute dagegen tut sich ein ganzes Universum allzu menschlicher Verstrickungen vor den Helfern des „Find Family National Call Centers“ auf: Unterhaltspflichtige oder Kriminelle, die den Hurrikan nutzten, um unterzutauchen; Frauen, die jahrelang unter häuslicher Gewalt litten und froh sind, samt ihren Kindern den Ehemännern entkommen zu sein; ältere Menschen mit eingeschränktem Erinnerungsvermögen, die es nach der späten Evakuierung lokaler Zufluchtsorte in weit entfernte Gegenden der USA verschlagen hat und die kein Angehöriger suchen lässt. Und bei den DNA-Untersuchungen zur Identifizierung unbekannter Toter oder auch Überlebender kommen verstörende Informationen ans Licht: zum Beispiel, dass Kinder gar nicht von ihrem offiziellen Vater abstammen.

Auch jetzt gehen täglich noch 120 bis 150 Suchanfragen ein. Die meisten können dank der Kartei des Roten Kreuzes oder der Bundesbehörden rasch geklärt werden. Aber selbst sieben Monate nach „Katrina“ kommen im Schnitt täglich zwei neue ungeklärte Schicksale hinzu. Die Menschen dachten zunächst an ihre engste Familie, erklärt Henry Yennie, Vizechef des Suchzentrums. Erst jetzt überlegen sie, was aus dem allein stehenden Nachbarn geworden ist. Gerade in New Orleans gab es viele Lebensläufe am Rande der Gesellschaft: ohne feste Arbeit, ohne Familie; Menschen, die schon psychisch gefährdet waren, als die Stadt noch heil war, oder verstrickt in Drogen und Kriminalität. Lebende und Tote, deren Identität unbekannt ist, das ist die eine Seite. Zahnärzte und DNA-Spezialisten haben hunderte Fälle klären können, etwa dank simpler Gebissvergleiche mit Bildern aus früherer Zeit. Oder durch die Erstellung ganzer DNA-Familienstammbäume. Mathematiker halfen, die Wahrscheinlichkeit abzugleichen, wohin ein individuelles Muster gehört.

Die andere Seite sind Menschen, deren Lebensort unbekannt ist. Einen Vermissten konnte das Suchzentrum in New York ausfindig machen. Es war ein gesuchter Schwerverbrecher. „Viele Frauen, die wir finden, flehen uns an, ihre neue Adresse nicht preiszugeben.“ Sie fürchten neue Gewalt. In solchen Fällen nennt das Zentrum nur Namen und Telefonnummer desjenigen, der die Suche in Auftrag gab, und überlässt es den Gefundenen, ob sie Kontakt suchen. Andersherum liegt der Fall bei Männern, die sich ihren Unterhaltspflichten durch Flucht entzogen haben. „Oft ist es eine schwierige Abwägung zwischen den Interessen der Suchenden und dem Recht der Gesuchten auf Selbstbestimmung.“

Mehr als die Hälfte der rund 1280 ungeklärten Schicksale betreffen schwarze Männer. Die Zahl der Kinder unter den Vermissten ist drastisch gesunken, auf unter 50. 26 Leichen konnten bisher nicht identifiziert werden, 46 nur mit eingeschränkter Wahrscheinlichkeit. Und dann sind da noch 100 Tote, deren Identität man kennt, und doch meldet sich kein Angehöriger. Den Familien, vermutet Yennie, fehlt das Geld für die Beerdigung.

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