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Kehlsteinhaus: Wo Hitler schwindelig wurde

Im Kehlsteinhaus in Oberbayern sollte der Diktator Tee trinken. Heute strömen die Touristen an den Ort – und Nazis.

„Nächste Auffahrt: 8 Uhr 55“. Die Digitalanzeige über dem Ticketschalter zeigt die erste Bergfahrt des Tages an. Vom Obersalzberg bei Berchtesgaden startet die Linie 849 des „Regionalverkehrs Oberbayern“ (RVO) zu ihrer einzigen Haltestelle: dem Kehlsteinhaus. Wie ein Adlernest sieht man es hoch am Felsen kleben. „Eagles Nest“ nennen es die Amerikaner. „Hitlers Teehaus“ wird es in Reiseführern auch genannt. Ein in Stein gehauener Ausdruck von absoluter Macht. Das Kehlsteinhaus auf dem Gipfel des gleichnamigen Berges ist das letzte aus der Nazi-Zeit erhaltene Gebäude des ehemaligen „Führersperrgebiets“.

Im Omnibus herrscht babylonisches Sprachgewirr: Kroaten, Amerikaner, Letten, Franzosen, Spanier und natürlich viele Deutsche haben auf den Sitzen Platz genommen und warten gespannt auf die Abfahrt „zu einer der eindrucksvollsten Gebirgsstrecken Europas“, wie eine Stimme vom Band gleich in vier Sprachen im Bus verkündet. Die meisten sind Sommerurlauber, die eine Fahrt zum Kehlstein mit ihrem Ferienaufenthalt in den Alpen verbinden. Familien, Reisegesellschaften – und vereinzelt kleine Gruppen glatzköpfiger Jugendlicher, die ihre rechtsradikale Gesinnung auf T-Shits zur Schau stellen: „Hardcore Pride“ prangt auf der Brust eines kroatisch sprechenden und offenbar zur dortigen Neonazi-Szene gehörenden Jugendlichen. „Macht und Ehre“ liest man bei einem anderen, oder: „Den toten Helden des deutschen Vaterlandes“.

Der Parkplatz an der Auffahrt zum Kehlsteinhaus ist ausgelegt für einen Großansturm von Touristen: 300 Autos und 80 Reisebusse passen darauf. Nichts erinnert mehr daran, dass an dieser Stelle einmal Kasernen der SS gestanden haben. An sonnigen Tagen ist der Parkplatz aber immer noch zu klein, dann wollen bis zu 4500 Besucher hinauf auf den Berg. 18 Linienbusse des RVO fahren dann ununterbrochen im 25-Minuten-Takt zum Kehlsteinhaus, das auf 1834 Metern über der Landschaft thront.

Busfahrer Bernhard Schübel lässt den Motor seines „Setra 315 Niederflur“ an, 354 PS stark, kurze Achsübersetzung, drei Bremskreisläufe. Schübel, 39 Jahre alt, fährt seit 1991 die Kehlstein-Strecke, 5000 Mal ist er schon hinaufgefahren.

Nach ein paar Minuten Auffahrt durch dichten Wald stockt einem der Atem: Das Sträßchen windet sich am Fels entlang, und im Nordwesten erheben sich die Gipfel von Jänner und Watzmann über dem unten liegenden Königssee. An einigen Stellen gähnt neben der Straße der Abgrund mehrere hundert Meter tief, nur durch niedrige Leitplanken aus Fichtenholz abgetrennt. Adolf Hitlers Sekretär Martin Bormann ließ das Kehlsteinhaus und seine Zufahrt in nur 13 Monaten bauen. Es sollte das Geburtstagsgeschenk der Partei zum 50. ihres großen Führers werden. Doch Hitler mochte es nicht. Er hatte Höhenangst und hasste Aufzüge. Zwischen 1938 und 1945 soll er nur 14 Mal oben gewesen sein.

Vier in den grauen Granit geschlagene Tunnel hat der Bus passiert, dann kommt mit dem „Schwalbennest“ die tückischste Stelle der knapp sieben Kilometer langen Strecke. Nur wenige Zentimeter bleiben Fahrer Schübel zwischen seinem Fahrzeug und der Felswand. Kurz darauf hält der Bus auf einer Wendeplatte ein gutes Stück unterhalb des Gipfels.

Von hier aus führt ein über 100 Meter langer Stollen in das Innere des Berges zum Aufzug. Doch zuvor müssen sich die Touristen den Rückfahrt-Stempel auf ihr Ticket stempeln lassen: eine Lektion in deutscher Gründlichkeit und Bürokratie. Der Mann in seinem Stempelhäuschen sitzt vor einer Batterie von 40 Stempeln und – tack, tack, tack – klopft er im Akkord jedem Ticket die Uhrzeit auf.

Ein etwa 70-jähriger Mann nutzt die Zeit in der Warteschlange, um laut zu sinnieren: „Ob wir oben wohl dem Reichsprotektor von Böhmen und Mähren begegnen? Der soll ja auch hier gewesen sein.“ Schwer einzuschätzen an diesem Ort, ob solche Äußerungen als Scherz oder ernst gemeint sind. Der ältere Herr „war vor zwei Wochen auf der Wolfsschanze“, dem heute zu Polen gehörenden ehemaligen „Führerstand“. Jetzt will er sich „mal hier umschauen. War ja mal ein bedeutender Ort“. Sagt’s und macht sich auf zum Fahrstuhl.

Im Vorraum hat sich schon eine Warteschlange gebildet. Eine junge Italienerin lacht, lässt sich von ihrem Freund fotografieren und zeigt dabei den Hitlergruß. Spaß muss sein. Dass sie gerade eine Straftat begeht, ist ihr offenbar nicht bewusst. Der ganz in Messing ausgeschlagene Fahrstuhl ist „original erhalten“, sagt der Fahrstuhlführer und klopft mit dem Knöchel auf ein schwarzes Telefon aus Bakelit. „Alles noch, wie es war.“ Dann bittet er die Touristen, zusammenzurücken. „Da wollen schließlich noch mehr hinauf.“

In 45 Sekunden schießt die Messingkabine den 124 Meter hohen Schacht hinauf und spuckt ihre Ladung in einem Vorraum des Kehlsteinhauses aus. Fast alle Touristen nehmen links den Ausgang ins Freie, um erst einmal die Aussicht zu bewundern. Nur die kleine Gruppe mit den eindeutigen T-Shirts wendet sich nach rechts zu den Innenräumen des Kehlsteinhauses. „Der Schrank hier ist noch vom Führer“, sagt einer von ihnen und deutet auf einen unscheinbaren Eichenschrank. Dann lässt sich die Gruppe im Oktogon, dem achteckigen Empfangszimmer Hitlers, einzeln vor einem Kamin aus rotem Marmor fotografieren. Der italienische Diktator Benito Mussolini hat ihn dem deutschen Reichskanzler gestiftet. Der Kamin ist an vielen Stellen beschädigt: Trophäenjäger haben im Lauf der Jahre Stücke herausgeschlagen.

Eine Reisegruppe aus Sachsen ist auf der Terrasse angekommen. Ein Rentner klopft fast zärtlich auf die exakt behauenen Granitquader und sagt: „Das würden se heute nüscht mehr hinbekommen.“ Der Kehlstein ist vielleicht der einzige Alpengipfel, bei dem die Aussicht nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die meisten Besucher stehen mit dem Rücken zum Alpenpanorama und haben nur Augen für den in Stein gehauenen Größenwahn der Nazis. Unter einem Kolonnadengang erinnern ein paar Hinweistafeln und Fotos an die Geschichte dieses Hauses: Hitler mit Prinzessin Marie José von Savoyen beim Tee, Hitler mit dem französischen Botschafter François Poncet.

„Ich schau nicht in die Köpf’“, antwortet der Kioskbesitzer vom Kehlsteinhaus auf die Frage, ob vor allem Nostalgiker sich hier heraufbemühen. Dass in den vergangenen Jahren junge Männer mit Glatzen und Tätowierungen unter den Besuchern zugenommen haben, habe er schon bemerkt. „Viele von ihnen sind Holländer, Tschechen und Kroaten“. Sein bester Artikel ist ein Heftchen mit dem Titel „Hitlers Kehlsteinhaus“, eine mit vielen historischen Fotos bebilderte Broschüre.

Um den Obersalzberg nicht den braunen Wallfahrern zu überlassen, entschied sich die bayerische Landesregierung vor mehr als zehn Jahren, auf dem Gelände ein „Dokumentationszentrum“ mit den historischen Fakten zu errichten. Die Einnahmen daraus werden für gemeinnützige Zwecke verwendet.

Eine Gruppe von vier Jugendlichen interessiert sich nach ihrer Rückkehr vom Kehlsteinhaus weniger für historische Fakten als für ein paar Ziegelsteinbrösel, die unterhalb des Busparkplatzes aus dem Waldboden ragen. „Hier hat es gestanden“, sagt einer und vergleicht das Gelände mit einem Foto vom ehemaligen „Berghof“ Adolf Hitlers. Das repräsentative Wohnhaus wurde 1952 von der US-Armee gesprengt. Heute wächst hier ein Buchenwald, und nur Eingeweihte finden den Platz. Eine im Wald versteckte Hinweistafel erklärt, dass Hitler mit den Größen des NS-Staates hier den Holocaust plante. Das Wort Holocaust auf der Tafel ist gerade neu eingetragen. Es wird fast wöchentlich ausgekratzt.

Philipp Maußhardt[Berchtesgaden]

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