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Trügerische Idylle. Nachdem ein Lehrer wegen Kinderporno-Verdachts suspendiert wurde, steht das enge Miteinander an der Odenwaldschule wieder grundsätzlich auf dem Prüfstand.

© dpa

Kinderporno-Verdacht: Heftiger Streit um Odenwaldschule

Der Kinderporno-Verdacht heizt die Kontroverse um die Odenwaldschule an. Einige Missbrauchsopfer machen sich zum Fürsprecher der Schule - andere fordern ihr Ende.

Boris Avenarius ist in der Odenwaldschule missbraucht worden. Jahre später wollte er die Täternamen veröffentlichen, alle, ganz radikal. „Leider bin ich da gescheitert“, sagt er. Avenarius ist Sprecher der „Opfervertretung pro OSO“. Er fordert: „Die Odenwaldschule muss mit ihrer Familienstruktur und einem Präventionskonzept bestehen belieben.“

Adrian Koerfer war 55 Jahre alt, als er erstmals über seinen Missbrauch an der Odenwaldschule reden konnte. Er ist Vorsitzender der Opferorganisation „Glasbrechen“. Koerfer sagt: „Lasst die Schule langsam sterben.“

Matthias Schimpf ist stellvertretender Landrat des Kreises Bergstraße. Sein Jugendamt hat die Aufsicht über das Internat der Schule. Schimpf sagt: „Wenn sich nichts radikal ändert, ist die Zukunft der Schule akut in Gefahr.“

Die Odenwaldschule (kurz OSO) im hessischen Ober-Hambach hat einiges seit 2010 geändert. Der Nachricht über 132 offiziell bekannte Missbrauchsfälle, dem Schock über die dunklen Seiten der einstigen Vorzeigeschule der Reformpädagogik, die auch die Schriftstellerin und Moderatorin Amelie Fried und der Manager Wolfgang Porsche besucht hatten, folgten interne Änderungen. Lehrer und Schüler teilen keine Schlafräume mehr, es gilt jetzt das Vier-Augen-Prinzip, kein Lehrer betreut eine Wohngruppe allein.

Der Streit hat Züge eines Glaubenskriegs

Aber nun das: Ein Lehrer soll kinderpornografisches Material besessen haben, er wurde suspendiert. Die Schule gab es erst nach einem Bericht des „Bergsträßer Anzeiger“ öffentlich zu. Der Lehrer war sogar lange beobachtet worden. Auch das enthüllte eine Zeitung, nicht die Schule. Warum? Weil sich die Vorwürfe nicht erhärtet hätten, sagte Schulleiter Siegfried Däschler-Seiler. Der Lehrer sei zu einer Fortbildung geschickt worden, Thema: „Fragen der Grenzverletzung“.

Der Streit um die OSO hat Züge eines Glaubenskriegs. Einerseits geht es um das Modell einer besonderen Pädagogik. Aber es geht auch um die Frage, ob seit dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals mehr Sensibilität von den Verantwortlichen an der Schule gefragt ist. „Vor dem Hintergrund ihrer Geschichte hat die OSO die Pflicht, sofort an die Öffentlichkeit zu gehen“, sagt der stellvertretende Landrat Schimpf. „Die haben wieder gewartet, bis man ihnen auf die Schliche kommt.“

Sein Jugendamt schickt seit vier Jahren keine Schutzbefohlenen mehr als Schüler an die OSO. Das wird sich erst ändern, sagt Schimpf, wenn „Lehr- und Internatspersonal strikt getrennt wird, bei Neu-Einstellungen externe Berater einbezogen werden und die Öffentlichkeit besser informiert wird“. Der suspendierte Lehrer sei sowohl Erzieher als auch Lehrer gewesen.

23 andere Jugendämter in Deutschland sehen das nicht so streng, sie haben Schüler geschickt. Derzeit lernen und leben in der OSO 195 Schüler, 44 davon kamen über die Jugendämter. Pro Schüler zahlt ein Jugendamt monatlich 4000 Euro. In den vergangenen Jahren waren im Schnitt 225 Schüler an der OSO.

Die Gegner kritisieren die Familienstruktur am Internat

Familienstruktur, das hört sich kuschelig an, für den Schulgegner Koerfer aber „befördert dieses System den Missbrauch“. Die Kinder seien doch abhängig von ihren Lehrern, sofern die zugleich ihre Erzieher sind. Und das Vier-Augen-Prinzip? „Eine Krähe hackt der anderen doch kein Auge aus. Wenn ein Lehrer einen anderen bei einem Übergriff sieht, würde der doch nie an die Öffentlichkeit gehen. Damit wäre doch die Existenz der Schule und damit die eigene gefährdet.“

Koerfer ist zudem angesichts der Darstellung hellhörig geworden, es habe an der Schule nur einen Fall von mutmaßlicher Kinderpornografie in vier Jahren gegeben. Von Experten, sagt Koerfer, höre er, dass es quasi jede Woche in Schulen solche Vorfälle gebe. „Es kann einen schon merkwürdig stimmen, dass an der OSO nur ein Fall hochkommt.“

Interessanterweise gehört Boris Avenarius zu den Gründungsmitgliedern von „Glasbrechen“, dem Verein von Koerfer. Später gab es Differenzen, inzwischen stehen sich beide als Gegner gegenüber. Avenarius verteidigt das Familiensystem an der OSO, es muss in seinen Augen auch unabhängig vom Missbrauchsskandal aufrechterhalten werden. „Menschen mit pädosexuellen Neigungen gibt es in allen Gesellschaftsschichten. Den Schutz der Kinder können wir nur über eine konsequente Präventionsarbeit bewirken.“ Sollen doch andere über einen „Kommunikations-GAU“ beim jüngsten Fall reden, für Avenarius ist die Beobachtung sogar Zeichen, dass alles gut läuft. „Die Schüler haben über ihren Verdacht geredet. Früher hätten sie das nicht gemacht oder man hätte gesagt: Du lügst.“ Avenarius sagt nicht, wie groß seine Gruppe ist, klar ist aber: Die OSO hat viele Unterstützer, ob organisiert oder nicht. Es gibt einen „OSO-Geist“, er resultiert aus dem Gefühl, einer Eliteschule angehört zu haben. „Die Beharrungskräfte“, sagt Schimpf, „sind enorm.“

Schließen kann die Schule nur das hessische Kultusministerium. Einer wie Schimpf hat da wenig zu sagen. Er kann nicht mal die Trennung von Schul- und Erzieherpersonal durchdrücken. Das ist Sache des Schulamts. Er kann nur Neuzugänge unter den Schülern über das Jugendamt verhindern. Aber immerhin kann er darlegen, wie er mit Missbrauchsfällen umgegangen ist, als er vor zehn Jahren Sozialdezernent in Bensheim war. „Es gab den Fall eines Jugendpflegers. Ich habe den Knaben angehört und dann beurlaubt.“ Und dann? „Dann habe ich am nächsten Tag die Medien informiert.“

Die FDP-Fraktion im Kreis Bergstraße hatte im Februar einen Antrag formuliert: Das Jugendamt solle doch wieder Schüler an die OSO schicken. Dort habe sich doch viel gewandelt. Landrat Matthias Wilkes widersprach entschieden. Fraktionschef Christopher Hörst zog den Antrag zurück, er wolle „der OSO keinen weiteren Schaden zufügen“. Vorsorglich sagte er aber: „Das Thema bleibt auf der Agenda.“ Für Adrian Koerfer klingt das wie eine Drohung.

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