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Panorama: Kindstötungenalarmieren Russland Soziale Unsicherheit lässt Mütter verzweifeln

Julias zweiter Sohn lebte nur ein paar Sekunden. Die 32-jährige Sibirierin, die trotz Hochschulabschluss Luftballons im Moskauer Umland verkaufen musste, um sich und ihren zehnjährigen Erstgeborenen zu ernähren, brachte das neue Kind auf dem Klo eines Marktes zur Welt.

Julias zweiter Sohn lebte nur ein paar Sekunden. Die 32-jährige Sibirierin, die trotz Hochschulabschluss Luftballons im Moskauer Umland verkaufen musste, um sich und ihren zehnjährigen Erstgeborenen zu ernähren, brachte das neue Kind auf dem Klo eines Marktes zur Welt. Gleich nach der Geburt, so der Befund der Gerichtsmediziner, habe sie das Baby in einen schwarzen Polyäthylen-Beutel gesteckt, in dem es erstickte. Den Beutel gab sie einem Freund mit dem Auftrag, ihn zu verbuddeln. Auf die Frage der Vernehmer, warum sie das offenbar ungewollte Kind nicht abgetrieben habe, gab sie zu Protokoll, sie hätte den Kleinen eigentlich behalten wollen, als Zugereiste ohne legale Aufenthaltsberechtigung für Moskau aber weder Anspruch auf medizinische Versorgung, noch auf Sozialhilfe gehabt.

Beide Gründe hätten in einer „gesunden, zivilisierten Gesellschaft schlicht und einfach keine Daseinsberechtigung“, rügte die von der russischen Regierung herausgegebene „Rossijskaja Gaseta“. Die berichtet in grausamen Einzelheiten von zahlreichen Babymorden durch ihre Mütter. Mit der großen russischen Seele, so das Blatt, sei offenbar etwas nicht in Ordnung. Die Tötung von Neugeborenen sei keine Krankheit mehr, sondern bereits eine Epidemie, schreibt das Blatt.

Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wurden 64 Verfahren wegen Tötung von Neugeborenen gegen deren leibliche Mütter eingeleitet, meldet das Blatt unter Berufung auf Statistiken der Ermittlungsbehörde bei der russischen Generalstaatsanwaltschaft. Die meisten dieser Kindstötungen sind überraschenderweise in Zentralrussland registriert – einer Region, die als relativ entwickelt und wohlhabend gilt.

Galina Semja, Expertin des Parlamentarischen Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder, erklärt dies damit, dass Russlands Sozialpolitik der anderer Industrienationen um Jahrzehnte hinterher hinkt. Landesweit stünden ganze 20 Zentren für Beratung, Betreuung und Unterstützung junger Mütter zur Verfügung. Dabei ist Russland der größte Flächenstaat der Erde mit einer Ost-West-Ausdehnung von fast 10 000 Kilometern und einer Bevölkerung von 142 Millionen. Auch seien die meisten Zentren erst geschaffen worden, nachdem Präsident Dmitri Medwedew 2009 das Wohl der Kinder zum zentralen Thema gemacht hatte.

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