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Menschen mit Mundschutzmasken in Caracas beten und halten Kreuze hoch, als der «Nazareno de San Pablo», eine Jesus-Statue, während der Feierlichkeiten zur Karwoche in einem Mobil durch die Stadt geführt wird.

© Ariana Cubillos/dpa

Kriminelle Samariter: Care-Pakete von der Mafia

Banden in Lateinamerika nutzen die Krise für neue Geschäftsmodelle. Das Virus verschiebt die Machtverhältnisse zwischen Staat und organisierter Kriminalität

Die Aufschrift auf den zu Ostern verteilten Lebensmittelkartons lässt wenig Zweifel an den Spendern: „Von deinen Freunden, dem Kartell Jalisco Neue Generation“ oder „Das Golfkartell unterstützt Ciudad Victoria“ steht da. Mexikos Kartelle nutzen die wirtschaftliche Not vieler Familien, ausgelöst durch das Coronavirus, um ihre soziale Basis auszubauen. In den Armenvierteln von Städten wie Matamoros tauchten die Kartons auf, in Kleinstädten Michoacáns oder Weilern von San Luis Potosí.

Verteilt werden die Kartons mit Reis, Bohnen, Speiseöl und Konserven von Handlangern der Kartelle. Sie kommen auf vollbeladenen Pickups zu zentralen Plätzen, wo sie bereits erwartet werden. Die Ausgabe dauert selten mehr als 10 Minuten – bis die Nationalgarde auftaucht, wenn sie davon überhaupt Wind bekommt, ist der Spuk längst vorbei. „Das ist mehr, als wir vom Staat bekommen“, kommentierte ein anonymer Nutzer die auf einschlägigen Seiten in sozialen Netzwerken zirkulierenden Videos und Fotos.

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Auch in Brasilien, Kolumbien und Mittelamerika ist der Staat auf die Unterstützung des Organisierten Verbrechens in der Krise angewiesen. Denn die Kriminellen kontrollieren in der Regel die abgelegenen, schwer zugänglichen Regionen und die Armenviertel der Städte. Und genau dort leben besonders gefährdete, mangelernährte Menschen unter prekären hygienischen Bedingungen, dicht gedrängt, fernab von Krankenhäusern, oft gibt es nicht einmal fließendes Wasser.

Brasiliens Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta gibt offen zu, dass er mit den Drogengangs verhandelt habe, um Gesundheitsbrigaden Zugang zu den Favelas zu ermöglichen. Presseberichten zufolge kollaborieren Drogengangs und paramilitärische Milizen in den Armenvierteln von Rio und São Paolo mit dem Staat. In Rocinha verboten sie Touristen den Zutritt; in Cidade do Deus verhängten sie eine Ausgangssperre ab acht Uhr abends, in Santa Marta verteilten sie Seife und stellten neben einer öffentlichen Wasserquelle am Eingang ein Schild auf mit der Bitte, sich vor dem Betreten der Favela die Hände zu waschen.

Einige Banden setzen über Ostern Schutzgeldzahlungen aus

Auch in El Salvador kümmern sich die beiden großen Banden MS und M18 um eine strikte Einhaltung der Quarantäne; Ähnliches wird von Kriminellen aus Kolumbien gemeldet und auch aus Venezuela von den „Colectivos“, kriminellen Banden im Dunstkreis der sozialistischen Regierung. In Guatemala setzten einige Banden über Ostern Schutzgeldzahlungen aus, um die Bevölkerung bei Laune zu halten.

Dahinter steckt laut Experten die Absicht, territoriale Kontrolle zu festigen und die Sicherheitskräfte fernzuhalten, die derzeit hauptsächlich mit der Jagd auf Quarantänebrecher befasst sind. Tiziano Breda von der „Crisis Group“ Mittelamerika schließt aber auch politisches Kalkül nicht aus: „Ich glaube, das ist eine Maßnahme, um sich für künftige Verhandlungen mit dem Staat zu positionieren“. Denn das Coronavirus tariert die Machtverhältnisse zwischen Staat und Organisierter Kriminalität neu aus. Derzeit zwingt das Virus die Kartelle zu mehr Diskretion und zum Umdenken ihres Geschäftsmodells – ein Zeichen dafür sind sinkende Mordraten in Ländern wie Honduras, Kolumbien und El Salvador.

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„Es sind weniger Menschen auf den Straßen, da fällt jedes Verbrechen mehr auf“, sagt der salvadorianische Sicherheitsexperte Paolo Luers – und damit steigen auch die sonst sehr geringen Chancen, dass der Übeltäter erwischt und bestraft wird. Wie lange das allerdings anhält, ist fraglich, denn der Druck auf die Finanzen der Kartelle wächst mit jedem Tag Quarantäne.

Kriminalität auf der Straße wird schwieriger - Cyberkriminalität wächst

Weil das Wirtschaftsleben weitgehend zum Erliegen gekommen ist, sinken die Schutzgeldeinnahmen. Einbrüche, Entführungen und Diebstähle sind schwieriger geworden, wenn alle zu Hause bleiben. Traditionelle Schmuggelrouten für Drogen, Waffen und Menschen wurden durch stärkere Kontrollen und Grenzschließung unterbrochen. Bei der Markenpiraterie oder der Lieferung von Chemikalien aus China für synthetische Drogenlabore kommt es zu Engpässen, wie mexikanische Medien berichten.

Trotzdem scheinen sich die Kartelle relativ rasch neu aufzustellen. Die Cyberkriminalität hat dem Portal „insight crime“ zufolge zugenommen, immer mehr Kartelle suchten aktiv den Kontakt zu Hackern. Phishing-Mails machen die Runde. In Costa Rica sorgte eine App namens Covidlock für Panik. Wer sie herunterlud, konnte nicht mehr auf sein Handy zugreifen und wurde aufgefordert, ein Lösegeld in Bitcoins zu zahlen. In Mexiko organisierten Kriminelle auf Facebook Plünderungen von Supermärkten – und ließen im Tumult vor allem elektronische Artikel mitgehen. Aus einigen Gegenden Brasiliens werden vermehrt Autodiebstähle und das Knacken von Geldautomaten gemeldet.

Weil die großen Häfen und Flughäfen stark überwacht werden, weichen die Kartelle außerdem in weniger besiedelte Regionen aus. So geht Umweltschützern zufolge in den abgelegenen Gebieten am Amazonas das illegale Goldschürfen und Abholzen unvermindert weiter. Auch die Drogenmafia hat Experten zufolge schon seit einiger Zeit ein Auge auf Amazonien geworfen. Der Abtransport der heißen Ware wird auf private Häfen und Flugpisten verlegt. Dabei fehlt es den Kartellen nicht an Fantasie: In Honduras wurde dieser Tage ein gefaktes Ambulanzflugzeug mit Kokain an Bord sichergestellt.

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