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Panorama: Mein Garten Eden: Heiße Vögel

Eigentlich müsste ich diesen Vogel hassen. denn er frisst meine Krokusse, kaum dass sie der winterlichen Erde entschlüpft sind.

Eigentlich müsste ich diesen Vogel hassen. denn er frisst meine Krokusse, kaum dass sie der winterlichen Erde entschlüpft sind. Am liebsten frisst er sie, wenn sie gelb sind. Er frisst auch die kleinen Primeln. Und er frisst später meine Kirschen frisch vom Baum. Er kommt mit seiner ganzen Familie, sucht mit entfernt Verwandten, und frisst sie alle. Schon Wochen bevor sie reif sind erscheint er zur Inspektion. Ich müsste ein Netz über den ganzen Baum hängen und mehrere Netze jetzt über die Wiese breiten. Manche Nachbarn tun das. Aber das sieht so hässlich aus, und es macht sehr viel Arbeit.

Die Rede ist von der Amsel (turdus merula), auch Schwarzdrossel genannt - einer unserer häufigsten Park-, Garten- und Waldvögel. Im Brehm steht, dass sie sich hauptsächlich von Kerbtieren, Schnecken und Würmern ernährt. Würmer ja, ich habe mehrmals gesehen, wie sie ein fettes Exemplar aus dem Boden zieht und verschlingt oder mit der sich ringelnden Beute zu ihrem Nest fliegt, wo die Jungen warten. Noch nie habe ich eine Amsel beim Verzehr von Schnecken beobachtet. Meine Kirschen sind eindeutig beliebter.

Aber wer könnte ein Geschöpf hassen, das so schön singt? Amseln gehören zu den besten Singvögeln überhaupt. "Ihre Lieder fließen ruhig und feierlich dahin wie Kirchengesänge." (Brehm). Sie singen in Strophen, in C-Dur oder G-Dur, wechseln von Vierteltönen auf Achtel und Sechzehntel. Das haben musikalische Forscher herausgefunden, und auch, dass jede Amsel immerfort neue und eigene Melodien erfindet. Eine Amsel lernt von der anderen, es gibt regelrechte Lehrer-Schülerbeziehungen. "Gute Sänger erziehen vortreffliche Schüler", schreibt Richard Gerlach in seinem Buch "Die Gefiederten".

Es ist immer ein besonders Erlebnis, im Frühjahr morgens im Bett die erste Amsel zu hören. Das Leben wird irgendwie leichter, heller. Sie setzt sich zum Singen auf den Gipfel eines Baumes oder einer Fernsehantenne. Ach, den ganzen Winter über ist sie schwarz (wenn sie ein Männchen ist) oder graugesprenkelt (als Weibchen) stumm und griesgrämig und halberfroren in irgendwelchen Hecken herumgesessen. Der Winter ist eine mühselige Jahreszeit für einen Vogel, nicht einmal, wenn er fliegt, sieht er schwerelos aus.

Turdus merula bleibt in der Kälte bei uns. Im Verhältnis zu ihrem Körper hat die Amsel ein sehr großes Herz. Die Temperatur ihres Blutes ist um drei bis sieben Grad höher als die unsere. Wir würden von Fieber sprechen. Das Leben brennt heißer in den Vögeln als in den Menschen, und nun freuen sie sich dieses Lebens wieder. Schwirren, flöten, verlieben sich, tanzen, jubeln. Legen Eier, dreimal im Sommer, zeigen ihren Kindern, wie man fliegt, wie man singt, wie man der Nachbarkatze entkommt.

Dieses Jahr hat ein Amselpaar im Gestänge meiner Markise ein Nest angelegt. Direkt neben dem Kirschbaum. Sollen sie sie doch haben, meine Kirschen. Das Blöde ist nur, dass ich die Markise nicht mehr entfalten kann. Bringe ich es übers Herz, eine kinderreiche Familie aus ihrer Wohnung zu weisen? Es wird ein heißer, schattenloser Sommer werden.

Ursula Friedrich

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