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Panorama: Mit Hilfe der Tomate

Ostdeutsche gehen als Erntehelfer in die Niederlande – und profitieren dort vom Mindestlohn

Es ist schwülwarm im Gewächshaus. Die Temperaturen liegen bei 30 Grad. Die Arbeit ist einförmig: Tomatenpflücken. Aber Roberto Ehrlichmann sieht keinen Grund, zu klagen. Der Chemnitzer hat in Deutschland zwei Jahre vergeblich nach einem Job gesucht – dann ging er als Erntehelfer in die Niederlande, vermittelt durch die Niederlassung einer holländische Jobagentur in Chemnitz.

„Ich verdiene hier pro Woche mindestens 200 Euro netto, davon kann ich einiges sparen“, sagt der 48-Jährige. „Was soll ich in Deutschland? Durch Hartz IV habe ich da absolut keine Perspektive mehr.“ Ehrlichmann ist nicht der einzige Sachse, der in den Gewächshäusern zwischen Rotterdam und Amsterdam Tomaten pflückt oder Paprika verpackt. Rund hundert Arbeitslose aus dem ostdeutschen Bundesland hat Matthias Illgen, deutscher Projektmanager der Arbeitsvermittlung „Inter-Actief“, schon auf die Reise nach Holland geschickt. Die Aussicht auf einen Nettoverdienst von rund 800 Euro im Monat lockt offenbar immer mehr Deutsche. Nachdem die „Tagesthemen“ darüber berichteten, steht das Telefon gar nicht mehr still: „Das ist Wahnsinn, ganz Deutschland ruft bei mir an“, berichtet Illgen. „Das sind Menschen aus allen Altersgruppen, und da sind auch viele studierte Leute dabei. Was alle verbindet, ist die Flucht vor Hartz IV.“

Warum in den Niederlanden Tomaten pflücken, während zum Spargelstechen in Deutschland Polen angeheuert werden? Der gesetzlich festgelegte Mindestlohn macht die Niederlande attraktiv: Erntehelfer verdienen dort fast ein Drittel mehr – rund 7,30 Euro die Stunde. Roberto Ehrlichmann hat seinen auf drei Monate befristeten Vertrag bereits zweimal verlängert. Seit sieben Monaten pflückt er jetzt Tomaten, seine Sehnsucht nach Sachsen hält sich dabei in Grenzen. „Ich habe nicht vor, nach Deutschland zurückzugehen“, sagt er – „es sei denn, die werfen mich hier raus.“ Doch damit ist nicht zu rechnen. Die Niederländer sind auf Gastarbeiter in ihren Gewächshäusern angewiesen – gerade jetzt in der warmen Jahreszeit.

Angesichts der geringen Arbeitslosenquote in den Niederlanden reißen sich Holländer nicht um die bescheiden bezahlten Jobs. Bisher waren es vor allem Polen und Portugiesen, die holländische Tomaten pflückten. Das allgemeine Stöhnen über die deutsche Arbeitsmarktreform brachte „Inter-Actief“-Chefin Mari-Jon Groenewegen-van Herk auf die Idee, auch hier Arbeitskräfte anzuwerben. „Wir haben so viele Stellen in unserer Region, da können wir auch Menschen aus Deutschland gebrauchen.“

Roberto Ehrlichmann hat inzwischen auch seine Verlobte aus Chemnitz nach Holland geholt. Jede Woche startet in Chemnitz ein Minibus, der ostdeutsche Gastarbeiter für 50 Euro über 700 Kilometer nach Rotterdam karrt.

Auch Mathias Schulze hat sich auf so eine Reise begeben: Der gelernte Bürokaufmann jobbte in einem Hotel. Als Housekeeper hat der 26-jährige im Amsterdamer Holiday Inn Betten gemacht und Staub gewischt. Die Arbeit hat ihn nicht sehr glücklich gestimmt: „Das war mir einfach zu unpersönlich.“ Noch mehr Unwohlsein bereitete ihm die Unterbringung: „Wir waren da zu fünft in einem Haus mit drei Zimmern untergebracht, das war ziemlich krass. Drei Monate mit einem Kerl ein Zimmer teilen – das war nicht so mein Ding.“ Die Miete von 100 Euro pro Monat war entsprechend niedrig. Die Jobagentur bezeichnet er als „o.k.“, er hat schon wieder Interesse an einem neuen Job bekundet – als Erntehelfer hat er schon in Frankreich und der Schweiz Erfahrungen gesammelt, jetzt will auch er niederländische Tomaten pflücken. „In Deutschland kriege ich ja nichts Vernünftiges“, sagt er. Lukrativer als deutsches Arbeitslosengeld seien die Jobs allemal. Sämtliche Brücken muss er dafür nicht abbrechen: Das Arbeitsamt zahlt einen Trennungskostenzuschuss in Höhe von 260 Euro, so kann er seine Wohnung in Chemnitz halten.

„Das ist natürlich nicht das, was ich mir erträumt habe“, sagt Schulze. „Aber in meinem Stolz fühle ich mich durch die Arbeit nicht verletzt.“ Manche Gastarbeiter aus Ostdeutschland empfinden das aber anders. „Gerade für ältere Menschen mit Familie ist es schon oft demütigend“, sagt Mathias Illgen. Es gibt auch Fälle, in denen er von der Reise nach Holland abrät. „Wer das nur als Flucht vor der deutschen Sozialgesetzgebung betrachtet, der schafft es drüben auch nicht“, sagt er.

„Die Polen sind meistens umkomplizierter“, sagt die Projektmanagerin Tessa van den Akker. „Bei den Leuten aus Chemnitz macht sich die deutsche Gründlichkeit bemerkbar. Die wollen alles ganz genau wissen und haarklein erklärt bekommen.“ Deshalb werden die Gastarbeiter aus Sachsen in der Regel durch deutsche Landsleute eingewiesen.

Die Jobagentur fährt ihre Erntehelfer nach der Ankunft in Holland mit dem Firmenbus zu ihren Wohnungen und später zur Arbeit. Agenturmitarbeiter betreuen auch die Unterkünfte, begleiten Neuankömmlinge zum Finanzamt. Ein Fernsehteam des MDR dokumentierte dort die verblüffte Frage eines niederländischen Finanzbeamten: „Was? Aus Deutschland? Nicht aus Polen?“

Bevor sie ihre erste Tomate pflücken, erhalten die Erntehelfer ein „Begrüßungsgeld“: 50 Euro Vorschuss in bar.

Heinrich Thies

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