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Panorama: Mitten aus dem Leben

Zwei Tage nach dem Fund der Leiche von Tim steht man in Elmshorn vor vielen Fragen – auch die Polizei rätselt noch

Nasskalte null Grad herrschen in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt. Bei diesen Temperaturen treibt es normalerweise niemanden vor die Tür. Aber seit der zweijährige Tim Hachmann am Mittwoch tot aufgefunden wurde, ist in Elmshorn nichts mehr normal. Die Menschen sind geschockt. Sie versuchen, den Tod des kleinen Jungen zu begreifen – zu verarbeiten, dass in ihrer Gesellschaft ein Leben gewaltsam beendet wurde, das doch gerade erst begonnen hat. Von einem Mann, den Bekannte als unscheinbar bezeichnen und der seit sechs Monaten in die Rolle von Tims Stiefvater geschlüpft war: Oliver H., 38 Jahre alt, hatte am Mittwochabend vor der Kriminalpolizei Itzehoe ein Teilgeständnis abgelegt: „Er hat letztendlich zugegeben, für den Tod des Jungen verantwortlich zu sein“, sagt Oberstaatsanwalt Wolfgang Zepter. Gegen H. wird nun wegen Totschlags ermittelt. Tim ist wahrscheinlich schon am Mittwochmorgen vergangener Woche an den Folgen „massiver Gewalteinwirkung gegen den Kopf“ gestorben.

Der mutmaßliche Mörder Oliver H. hatte die Kinderleiche am Donnerstagmorgen in eine Sporttasche seiner Freundin – Tims Mutter – gelegt. Anschließend fuhr er in die Gärtnerstraße 54, um da Bauarbeiten durchzuführen. Dabei versteckte er die Tasche in einem Dickicht am Rande des Hauses: Einen Tag später brachte er sie an einen anderen Ort innerhalb des Gartens. Dort wurde Tims Leiche am Mittwoch gegen 14 Uhr gefunden.

Seine Mutter Monya H. hatte ihren Sohn bereits Tage zuvor in die Obhut des mutmaßlichen Täters gegeben, der „eine Art Erzieherrolle“ ausübte, wie die Polizei jetzt sagt. Daher glaubte die 21-Jährige ihm auch, als er ihr am Donnerstagabend erklärte, er habe den schlafenden Tim in sein Kinderzimmer gebracht.

Bei der Polizei jedoch hatte sie erklärt, sie habe den Jungen selbst ins Bett gelegt. Warum sie falsch aussagte? „Sie befürchtete, dass es sich bei möglichen Sorgerechtsentscheidungen negativ auswirken würde, wenn herauskäme, dass sie ihren Sohn mehrere Tage ihrem Freund überlassen hatte“, meint Zepter.

Trotz aller Bemühungen der Soko „Tim“ bleibt immer noch vieles über Tatmotiv und -hergang im Dunkeln. Die von H. vorgetragene Version deckt sich nicht mit den Ergebnissen der gerichtsmedizinischen Untersuchung.

Zu Oliver H.s Vergangenheit existieren nur Fragmente: Bei der Polizei ist er zwar kein Unbekannter, fiel bisher aber nicht wegen Gewaltdelikten auf. 2001 hatte er im Elmshorner Industriegebiet mit einem Geschäftspartner eine Tischlerei eröffnet, die auf Elementebau und Möbel spezialisiert war. Nach nur zwei Monaten stieg er aus dem Geschäft aus. Angeblich hat er seinen damaligen Geschäftspartner finanziell betrogen. Nach Angaben der Handwerkskammer Lübeck eröffnete er anschließend eine Tischlerei im nahe gelegenen Seeth-Ekholt. Dieses Geschäft gab er am 31. August 2005 auf und zog nach Elmshorn. Zu dem Zeitpunkt hatte er schon eine Beziehung zu Monya H. Rund zwei Monate später erschütterte er die Stadt jetzt in ihren Grundfesten.

„Wir sind fassungslos, ratlos, wütend“, sagt Stefan Bemmé, Pastor an der Elmshorner St. Nikolai-Kirche. Es seien so viele Eindrücke über die Menschen hereingebrochen, dass einige fast stumm geworden sind. Die vielen Frauen, Männer und Kinder, die Plüschteddys und Blumen am Fundort des toten Tim ablegen, bestätigen Bemmés Worte. Gölsan Kosa strömen Tränen übers Gesicht. „So grausam, so grausam“, stammelt die 31-jährige Mutter immer wieder: „Es geht mir so nahe. Mütter müssen immer aufpassen.“ Auch Nicole Jung, 26, hockt vor dem Lichtermeer. Ihre vierjährige Tochter Cindy Mary kuschelt sich an sie, starrt auf die Kuscheltiere. „Die Kleine wollte selbst herkommen“, sagt Jung. Auch Doris Goldbach aus dem nahen Glücksstadt steht fassungslos vor dem Haus: „Man hatte ja noch die Hoffnung, dass jemand den Kleinen mitgenommen hat.“ Angela Bornholdt ist mit Sabine Witte, die im Erdgeschoss der Gärtnerstraße 54 wohnt, verwandt. „Ich bin einfach nur entsetzt und tieftraurig“, sagt sie. „Für mich ist es unfassbar, dass hier ein totes Kind gefunden wurde.“ Sie empfinde unsagbare Trauer.

Tag für Tag suchen die Elmshorner nun ihren Weg zurück in die Normalität. Bevor jedoch die Beerdigung stattfindet, scheint das unmöglich: Fernsehkameras, Mikrofone und Notizblöcke bestimmen das Stadtbild. Sogar der Würstchenverkäufer in der Imbissbude an der Kirche wird gefragt, ob er Tim oder Oliver H. kannte. Er kannte sie nicht. Er kann die vielen Fragen nicht beantworten. Es bleibt schwer, das Unbegreifliche zu begreifen.

Tanja Gerlach[Elmshorn]

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