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Music Week: Die Musikbranche rettet sich selbst

Zehn Jahre lang läuteten die Totenglocken: Der deutsche Musikmarkt schrumpfte ohne Ende, die Digitalisierung hat ihn voll erwischt. Nun aber erholt sich die Branche. Nicht trotz, sondern dank des Internets.

Ein Schritt hinein, in die Zukunft der Musikindustrie – es erwartet Howard Carpendale. Weißer Anzug, blonde Mähne, Siegerlächeln, die ganze Erscheinung wie eine einzige Goldene Schallplatte. Der Schlagersänger hat in seinem Leben mehr als 25 Millionen Tonträger verkauft, die meisten in den 80er Jahren, als verkaufte Tonträger noch alles waren. Dann kam das Internet und mit ihm die Krise. 2013 scheint die Branche nun endlich profunde Antworten auf die Digitalisierung zu finden. Antworten wie den Streaming-Dienst Spotify, in dessen Deutschland-Zentrale die lebensgroße Pappfigur Carpendales Besucher begrüßt und an vergangene, goldene Zeiten erinnert.

Das Büro von Spotify in Berlin-Mitte vermittelt klassische Start-up-Atmosphäre. Die Mitarbeiter genießen fair gehandelte Limonade und großzügige Rückzugsräume, sie tragen Turnschuhe zum Sakko, den Look der Berufsjugendlichen. Genau wie Geschäftsführer Stefan Zilch. Als der 37-Jährige einen seiner 16 Mitarbeiter vorstellt, scherzt er, dass er auch nicht wisse, was dieser Typ da den ganzen Tag am Rechner mache. „Wir wollen schnell bleiben und wachsen“, sagt Zilch.

Spotify ist der wichtigste Streaming-Dienst der Welt

Mit insgesamt über 700 Mitarbeitern, weltweit 24 Millionen Nutzern und 6 Millionen zahlenden Abonnenten ist Spotify der wichtigste Streaming-Dienst der Welt. „Wir sind Teil der Musikindustrie, aber vor allem ein Technologieunternehmen“, sagt Zilch. Wenn er sich bedächtig durch seinen Fünf-Tage-Bart fährt und dabei verkündet, dass Spotify sich zur wichtigsten Einnahmequelle für die Branche entwickeln könnte, ist das ganz die Silicon-Valley-Schule: Hoch motiviert die großen Ziele verfolgen, selbstverständlich, nur wie Arbeit aussehen soll es nicht.

Der Unterschied von Spotify zu Anbietern legaler Downloads wie iTunes liegt darin, dass die Nutzer lediglich das Recht erwerben, einen Titel zu hören, nicht den Titel selbst. Der werbefreie Dienst kostet bis zu zehn Euro im Monat. Dafür gibt es eine Auswahl von 20 Millionen Songs. „Unser Slogan lautet: Musik für jeden Moment. Es geht darum, Empfehlungsfunktionen und Algorithmen zu schaffen, die jedem zu jeder Zeit die passenden Songs vorschlagen“, sagt Zilch. Dass der Mann mit dem „klassischen Onliner-Lebenslauf“ beim Erfinder der MP3, Karlheinz Brandenburg, studiert hat, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Schließlich war es diese Methode zur Komprimierung von Audiodaten, die den illegalen Austausch von Liedern im Netz so weit erleichtert hat, bis eine ganze Branche in Todesfantasien vor sich hin delirierte. Nun sagt Zilch: „Piraterie entsteht aus einem Mangel an Alternativen.“

Der illegale Austausch von Musik - ein Massenphänomen

Vor allem dieser Mangel an legalen Möglichkeiten zum Musikkonsum im Netz war es, den die Musikindustrie jahrelang vorgehalten bekommen hat, die sich dieser Tage auf der Berlin Music Week wieder trifft. Um die Jahrtausendwende herum wurde der illegale Austausch von Musikdateien zum Massenphänomen, vor allem über die Tauschbörse Napster wanderten Lieder von einem Rechner zum nächsten. Auf diesen „Napster-Schock“ reagierte die Branche lange wie versteinert. Nach mehr als einem Jahrzehnt rückläufiger Umsätze, in dem die Zahl der Beschäftigten um etwa die Hälfte zurückging, hat der deutsche Musikmarkt im ersten Halbjahr 2013 die Wende geschafft und ist um 1,5 Prozent gewachsen.

Seit 1999 hat die Branche 38 Milliarden Umsatz verloren

Ähnlich ist die Entwicklung auf dem weltweiten Markt. Die Verkäufe von CDs gehen weiter zurück, doch zum ersten Mal steigen die Einnahmen aus dem Internet schnell genug, um die Verluste auszugleichen. Die Zeitenwende zum legalen Musikgeschäft im Netz personifiziert ein Mann der alten Schule. Napster-Gründer Sean Parker hat die Industrie mit seiner Tauschbörse geschröpft – und ist heute einflussreicher Investor bei Spotify.

Streaming-Dienste, neben Spotify auch Simfy, Deezer, Rdio und andere, haben laut dem Bundesverband Musikindustrie ihren Marktanteil verdoppelt und „momentan das größte Wachstumspotenzial“. Dass Spotify nicht nur Liebling der Szene ist, sondern auch viel Kritik einsteckt, liegt vor allem an den niedrigen Beträgen, die Künstler für einen abgespielten Song erhalten. Weit weniger als einen Cent bekommen die meisten dafür. Einige Künstler ziehen ihre Songs deshalb von der Plattform zurück, die meisten bleiben jedoch. Für Altstars, die an der Verwertung ihrer erfolgreichen Lieder weiterhin Geld verdienen, tauge Streaming ja etwas, heißt es oft, für neue Künstler seien die Einnahmen zum Leben zu wenig.

Ein Argument, das Zilch nicht gelten lässt, schließlich würden ja auch viele Nutzer streamen und dafür bezahlen, die sonst nur illegal Musik aus dem Netz ziehen würden. Erfolge von Künstlern wie Cro – der bei Spotify am meisten geklickte Künstler war im letzten Jahr auch bei CD-Verkäufen sehr erfolgreich – scheinen zudem der These der Kannibalisierung von einem Vertriebsweg durch den anderen zu widersprechen.

Die neuen Zahlen lassen hoffen

Dass Streaming mit knapp fünf Prozent Marktanteil und legale Downloads mit 20 Prozent der klassischen CD mit ihren 75 Prozent immer noch gewaltig hinterherhinken, sehen Experten als vorläufige Erscheinung. Die Referenzmärkte geben die Richtung vor. In den USA wurde 2012 zum ersten Mal mehr Geld im digitalen Musikgeschäft umgesetzt als mit Tonträgern. In Schweden, neben Spotify auch Heimat der berüchtigten Tauschbörse mit dem selbst erklärenden Titel Pirate Bay, kauft kaum jemand noch CDs, Streaming boomt dort, wie in ganz Skandinavien. Doch auch wenn die neuen Zahlen die Musikindustrie hoffen lassen, wird es wohl nie mehr so sein wie vor der Digitalisierung: Weltweit ging der Umsatz der Branche seit dem Rekord 1999 mit 38 Milliarden um mehr als die Hälfte zurück.

Die deutsche digitale Verspätung hat viele Gründe. Das gute regionale Radioprogramm könnte einer sein, die Liebe zu physischen Tonträgern ein anderer. Ein Grund für den momentanen Übergang zum legalen digitalen Musikkonsum könnten die zahlreichen Abmahnungen sein, die von der Musikindustrie den Nutzern illegaler Tauschbörsen geschickt wurden. Mehr als 20 000 waren es allein 2012, mit der durchschnittlichen Forderung von 800 Euro. Allerdings ist die Tendenz rückläufig. Es ist wohl vor allem der Zangengriff aus stärkerer Verfolgung illegaler Nutzung und verbessertem legalen Angebot, der die Portemonnaies der Musikfans geöffnet hat.

Nun sollen die Fans die Branche retten

Die Rettung der Musikindustrie durch die Musikfans selbst, ohne Umwege, ist die Idee hinter Crowdfunding-Plattformen wie SellaBand. Das Prinzip ist einfach: Künstler erklären auf der Plattform, wie viel Geld sie für ein neues Album oder ein Musikvideo brauchen, die Nutzer spenden eine von ihnen festgelegte Summe. Labels sollten überflüssig, die Musikindustrie demokratisiert werden, als die Plattform 2006 noch aus Holland antrat, den gesamten Markt zu revolutionieren. Nach einer zwischenzeitlichen Insolvenz und einem Verkauf sitzt das Unternehmen nun in Berlin und München – wie die ganze Musikindustrie hat es sich erfolgreich verkleinert.

Artist Manager Malte Graubner sitzt in einer Etage für junge Unternehmen im Spree-Palais mit Blick auf den Berliner Dom, faltet seine Hände und sagt: „Wir sehen uns als Ergänzung zur Musikindustrie. Wir wollen Künstlern die Finanzierung ermöglichen, ohne ihnen die Rechte an ihren Songs abzunehmen.“ Geld verdient SellaBand nur, wenn die Bands über die Plattform Projekte realisieren. Wie die meisten Macher im Hintergrund hat auch Graubner einmal alles auf eine eigene Musikkarriere gesetzt, mit seiner Indierock-Formation aber nicht den Durchbruch geschafft. Um zu zeigen, wie erfolgreiches Crowdfunding funktioniert, hat er das Duo Anne Haight eingeladen. Die beiden Musikerinnen – Anne, Singer-Songwriterin, und Kirstin, Bratschistin – haben über SellaBand erfolgreich 10 000 Euro gesammelt, um ihr Album aufzunehmen.

Offline anfangen, online Geld sammeln, Album aufnehmen

Wie nerdige Vorreiterinnen der Digitalisierung sehen die beiden Musikerinnen nicht aus. „Wir haben einige sehr engagierte Fans, die uns auch nach Konzerten schon unterstützen wollten“, sagt Anne. Vor allem einem „Believer“, wie die zahlenden Unterstützer genannt werden, haben es die beiden wohl angetan. 1500 Euro hat ein einzelner Nutzer aus Neuseeland gespendet, dafür hätte er „ein Anrecht auf drei Wohnzimmerkonzerte oder zwei Auftritte in unseren Musikvideos“, sagen die beiden und müssen lachen. Dass die Believer bestimmte Gratifikationen je nach gespendeter Summe bekommen, ist fester Bestandteil der Idee von SellaBand. „Wir waren eher die untypischen Crowdfunding-Künstler. Wir haben kaum Fan-Videos gepostet, sondern eher Social Media und den persönlichen Kontakt zu den Fans genutzt“, sagt Kirstin. Dass trotzdem Geld zusammenkam, lag wohl auch am Sieg von Anne Haight bei der „Nacht der Talente“ von Radio Fritz vor einem Jahr und der anschließenden Radio-Präsenz ihres verträumt melodischen Songs „Black Bird“. Offline anfangen, online Geld einsammeln, Album aufnehmen und mit den Songs auf eine hoffentlich gut bezahlte Tour gehen, wo dann das wirkliche Geld verdient wird – auch so kann eine Wertschöpfungskette im Musikgeschäft 2013 aussehen.

Für Neueinsteiger ist Crowdfunding schwierig

Dass auch bekannte Künstler SellaBand nutzen können, haben nicht zuletzt die legendären US-Rapper von Public Enemy bewiesen, aktuell sammelt auch Studio- Braun-Legende Rocko Schamoni auf einer Plattform aus der Schweiz für ein Pop-Orchester-Projekt. Musikmanager Erik Laser glaubt ohnehin, dass sich Crowdfunding für Künstler eignet, die sich bereits einen Stamm von Anhängern aufgebaut haben: „Wenn Public Enemy oder H-Blockx sammeln, spenden die Fans. Für Neueinsteiger ist es schwierig.“

Mit seinem Musikverlag Laserlaser arbeitet der Mann mit dem zurückgekämmten Haar mit großen Labels zusammen, um Künstler wie Jennifer Rostock Plattenverkäufe und ausverkaufte Hallen zu bescheren. „Es kommt immer noch auf das gute Produkt an, die Ansprache der Fanbasis hat sich jedoch verändert“, sagt er in seinem Büro, einem spärlich eingerichteten Raum mit dem gewissen Chic des Rohen. „Je jünger das Zielpublikum ist, desto irrelevanter werden klassische Medien. Bei Fans unter 25 ist selbst das Cover des legendären Rolling Stone nichts wert.“

Über den Berg ist die Industrie trotzdem nicht

Für das kommende Album von Jennifer Rostock setzt Laser auf eine Kombination aus gezielter Ansprache in den sozialen Netzwerken und einer starken Präsenz auf Youtube, wo Songs vorab umsonst zu hören sein werden. „Früher hätte ich ganz stark darauf geachtet, vorab gezielt einen Hit im Radio zu platzieren. Heute können wir die Fans von Jennifer Rostock gezielter ansprechen. Wir müssen nicht alle Menschen in Deutschland erreichen.“ Die Fragmentierung scheint für die Musikindustrie dann kein Hindernis mehr zu sein, wenn die angestammten Fans ihre Unterstützung beibehalten. Drei Prozent „Intensivnutzer“ sorgen nach Zahlen des Bundesverbandes für mehr als ein Drittel der Umsätze. 63 Prozent geben gar nichts für Musik aus.

„Es ist grundsätzlich so, dass es schwieriger geworden ist, sich Gehör zu verschaffen“, sagt Laser, dessen durchdringender Blick die Gewohnheit zu verhandeln verrät. Auch er hat einmal als Musiker begonnen. „Es gibt immer noch das Risiko des Scheiterns.“ Einiges sei für Künstler im Jahr 2013 jedoch einfacher. So betreue er mit DJ Etnik einen auch international wahrgenommenen Künstler, der „seine Musik in seinem Kinderzimmer zusammenmischt, Etnik braucht kein aufwendiges Studio“. Auch die Diskussion um die geringen Einnahmen der Künstler durch Streaming ist für Laser nicht angebracht. „Man sollte froh sein, wenn die Leute einem ihre Zeit geben.“ Rentieren werde sich die Karriere dann langfristig, wenn eine breite Fanbasis und eine große Anzahl an Liedern für konstante Einnahmen sorgen. Über den Berg ist die Musikindustrie nach Lasers Meinung ohnehin nicht. Man habe eben keine andere Wahl gehabt und sich „gesundgeschrumpft“.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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