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Panorama: Nach dem Beben entlädt sich die Verzweiflung

Im türkischen Bingöl liefern sich aufgebrachte Demonstranten heftige Straßenkämpfe mit der Armee

Außer sich vor Wut zieht der bärtige Mann seinen Pullover hoch und entblößt seine nackte Brust. „Schieß doch“, schreit er die Soldaten an, die wenige Meter von ihm entfernt auf dem Platz vor dem Sitz des Provinzgouverneurs von Bingöl mit ihren Schnellfeuergewehren herumfuchteln. Ein älterer Mann stellt sich zwischen den wütenden Demonstranten und die Soldaten und hebt beschwichtigend die Hände. Es hilft nichts. Die Stimmung ist zu aufgeheizt, die Menschen sind mit den Nerven am Ende.

Gerade einmal 30 Stunden ist es her, dass viele von ihnen bei dem schweren Erdbeben von Bingöl ihre Verwandten, Freunde, ihr Hab und Gut verloren haben.

Deshalb versammeln sie sich am Morgen vor dem Gouverneurssitz, um gegen die ihrer Meinung ungenügende und schleppende Erdbebenhilfe des türkischen Staates zu demonstrieren. Doch plötzlich pflügt ein Polizeibus durch die Demonstranten, zwei Menschen werden verletzt. Und dann schießen die Soldaten mit ihren automatischen Waffen wild in die Luft, um die Menge auseinanderzutreiben. Die Demonstranten wehren sich mit Knüppeln und Steinen, sogar Stühle und leere Obstkisten fliegen durch die Luft.

Stoßtrupps der Polizei und der Armee arbeiten sich Straße für Straße vor, schießen jetzt nicht mehr senkrecht in die Luft, sondern schräg nach oben, über die Köpfe der Demonstranten hinweg. Noch ein wenig tiefer, und es gibt Tote. Es ist nicht nur die Wut über Versorgungsmängel, die sich da Bahn bricht. Es sind auch nicht nur die Spannungen zwischen der kurdischen Bevölkerung und der türkischen Staatsgewalt in Bingöl. Es ist die Wut auf einen Staat, der nach Meinung vieler Türken das Leben von bis zu 200 Menschen in Bingöl auf dem Gewissen hat. Das gibt der Staat sogar selber zu.

Überall auf der Welt gebe es Erdbeben, aber nur in der Türkei gebe es immer wieder so viele Tote, sagt Kulturminister Erkan Mumcu. Es muss also an der Türkei selbst liegen. Schlampig gebaute Häuser, fehlende Kontrollen der Behörden, Bestechung, Vetternwirtschaft: Auch in Bingöl sind das die Hauptgründe für die hohe Zahl der Opfer. Der staatliche Auftrag zum Bau des Schüler-Wohnheims in dem Dorf Celtiksuyu ein paar Kilometer außerhalb von Bingöl war Mitte der neunziger Jahre an einen prominenten Parteifreund der damaligen Regierungspartei gegangen. Auf Erdbebensicherheit überprüft hat den Bau offenbar niemand, auch nicht nach dem schweren Beben in Yalova im Nordwesten des Landes, bei dem 1999 mehr als 20 000 Menschen starben. Als am Donnerstag gegen halb vier morgens für 19 Sekunden die Erde bebte, sackte das Wohnheim in sich zusammen und begrub 200 Schüler im Alter zwischen sechs und 17 Jahren unter sich. Die Nachbargebäude blieben stehen. „Sie haben den Kindern das Leben gestohlen“, schreibt eine Zeitung.

Am Freitag könnte der Gegensatz zwischen dem Stadtzentrum von Bingöl und dem Trümmerhaufen in Celtiksuyu nicht größer sein. Dort der Lärm der Straßenschlacht – hier unheimliche Ruhe. Seit dem Morgen haben die Helfer keine Rufe eingeschlossener Kinder mehr gehört, die noch bis in den Morgen hinein aus den Betonmassen drangen. Rund 70 Kinder seien noch eingeschlossen, sagt ein Helfer, doch zwei Drittel von ihnen seien wohl tot. Weiter gegraben wird trotzdem, da sind sich zivile und militärische Helfer einig. Dass die Experten überhaupt schon einen Tag nach dem Beben vor Ort sind, zeigt, dass die staatlichen Hilfsbemühungen nach dem Unglück in Bingöl wesentlich besser organisiert sind als nach dem katastrophalen Beben von 1999. Damals dauerte es drei Tage, bis die Behörden in die Gänge kamen. Nun sind nicht nur die Helfer des türkischen Roten Halbmondes von Anfang an im Einsatz, sondern auch die Armee, die eine eigens für Naturkatastrophen geschaffene Spezialeinheit aufbietet.

Schweres Gerät, Feldküchen, ein Feldlazarett – all dies hatte nach dem Beben vor knapp vier Jahren tagelang gefehlt. Jetzt ist es da. Und doch ist es nicht genug. Zwar wird an einigen Stellen in Bingöl kostenlos Brot verteilt, doch viele Erdbebenopfer gehen leer aus. Zwar kann Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan am Freitagmittag darauf verweisen, dass innerhalb von rund 30 Stunden nach dem Beben 1300 geräumige Zelte in Bingöl aufgestellt worden sind. Doch sie sind zu drei Vierteln leer, weil die meisten Erdbebenopfer nicht in einem Zeltlager leben, sondern aus Angst vor Plünderungen in der Nähe ihrer Häuser bleiben wollen. Außerdem befürchten viele, dass sie auf Monate oder sogar Jahre in den Zeltstädten bleiben müssen, wenn sie erst einmal dort sind.

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