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Update

Nach dem Busunglück: Schweizer Todestunnel - Meer der Tränen, Berge von Blumen

Schweizer und Belgier trauern um die toten Kinder. Angehörige sind jetzt aus Belgien zur Unfallstelle in die Schweiz gereist. Die Ursache des Unglücks ist nicht geklärt.

Nach dem Unfall eines belgischen Busses steht die Schweiz unter Schock. Der Tod von 22 Kindern und sechs Erwachsenen, die allesamt zum Urlaub ins Land gekommen waren, trifft das Land ins Mark. Die Eidgenossen, denen Sicherheit als höchstes Gut gilt, fragen sich: Wie konnte so eine Tragödie passieren? Ist unser Straßensystem doch nicht so ausgereift, wie wir immer dachten? Schmerz und Fassungslosigkeit der Eidgenossen verdichteten sich nahezu exemplarisch in dem aschfahlen Gesicht der Bundespräsidentin. Eveline Widmer-Schlumpf sagte nach der Tragödie: „Ich habe Mühe, die richtigen Worte zu finden.“ Mütter und Väter besuchten die Kapelle auf dem Zentralfriedhof der Kantonshauptstadt Sitten (französisch: Sion), wo die Leichen der 22 bei dem Unfall am Dienstagabend getöteten Kinder aufgebahrt sind.

Tränen und Blumen, mühsame Beherrschung und versteinerte Mienen – im flämischen Lommel herrschen nach dem Busunglück in der Schweiz Trauer und Bestürzung. Die Schule der kleinen Stadt nahe der niederländischen Grenze hat in einem einzigen schrecklichen Augenblick 15 Kinder verloren. Die Mitschüler und Anwohner versuchen am Donnerstag, den Schock auf ihre Weise zu verdauen. Gegen acht Uhr morgens am zweiten Tag nach dem Unglück im schweizerischen Wallis treffen die ersten Schüler und Eltern an der Schule „'t Stekske“ ein. Viele legen Blumen nieder, Stofftiere oder Zeichnungen, andere zünden Kerzen an. Worte des Trostes auf Pappen und Papieren: „Keine Zukunft, keine schönen Kindheitsträume mehr, nur euer unvorstellbares Leid, das nie aufhören wird – wir tragen es mit euch“, heißt es auf einem Zettel.

Nach dem Schulurlaub in den Alpen war der Bus mit 52 Insassen am Dienstag um 21 Uhr 15 frontal in eine Nothaltebucht eines Tunnels der A9 gerast, bei Siders im Kanton Wallis. Neben den Toten sind auch 24 verletzte Kinder zu beklagen. Drei von ihnen rangen auch 36 Stunden nach dem Unglück im Universitätsspital von Lausanne mit dem Tod.

Antworten auf die Frage nach der Unfallursache bleiben auch am Donnerstag zunächst aus. Die Ermittlungsbehörden verfolgten drei mögliche Spuren. Technische Defekte des Fahrzeugs wie fehlerhafte Bremsen oder gesundheitliche Probleme des Fahrers wie einen Schlaganfall oder aber menschliches Versagen.

Erschütternde Szenen am Unglücksort

Am Unglücksort Siders spielten sich weiter erschütternde Szenen ab. Aus Belgien waren die Eltern der Opfer angereist. Die Mütter und Väter, viele mit Rosen und Botschaften in den Händen, sahen ihre toten Kinder wieder, aufgebahrt in einer Kapelle der Leichenhalle. Sie mussten ihre Söhne und Töchter identifizieren – und sie nahmen Abschied. Dann begaben sich die Angehörigen in den Tunnel, in dem der Ausflug ihrer Kinder ein grausames Ende fand. Die Röhre war vorübergehend für den Verkehr gesperrt. Die Familien wurden auf ihrem schweren Gang „von Psychologen begleitet und auch von Seelsorgern“, erklärte der Sprecher der Kantonspolizei, Renato Kalbermatten. Die belgische Regierung will am heutigen Freitag mit der Überführung der sterblichen Überreste in die Heimat beginnen. Auch die Verletzten sollten „so bald wie möglich“ nach Hause kommen.

Das Unglück in dem 2,5 Kilometer langen Tunnel, das die Schweiz international in die Schlagzeilen katapultierte, entfachte eine nationale Debatte über den Zustand des Straßennetzes. Schließlich lebt Helvetien als Urlaubs- und Transitland von einer Infrastruktur, die den höchsten Sicherheitsanforderungen genügen muss. Vor allem die Bauweise der Nothaltenische im A9-Tunnel gibt vielen Fachleuten zu denken. Die rund drei Meter breite Insel wird an beiden Seiten durch Wände begrenzt, die rechtwinklig zu der eigentlichen Autobahn stehen. Diese Konstruktion wurde für die Reisegesellschaft aus Belgien zur Todesfalle. Die Ausbuchtung ist in der Schweiz kein Einzelfall: In vielen Tunneln des Alpenlandes finden sich derartige Notbereiche. Aus der Verkehrskommission des Parlaments hieß es, die Anordnung habe keinen Sinn. Der Präsident der Kommission, Markus Hutter, verlangte eine breite Diskussion über die Sicherheit in Tunneln. Die Schweizer Beratungsstelle für Unfallverhütung bezeichnete die rechtwinklige Anordnung als „nicht optimal“. Daniel Menna, Sprecher der staatlichen Stelle, sagte: „Aus Studien wissen wir, dass feste Objekte am Fahrzeugrand wie die Mauer der Nothaltebucht sehr gefährlich sind.“ Der Bus sei ungebremst in die Wand gekracht. „Die ganze Energie flog da rein“, erläuterte der Fachmann. Das Risiko könnte durch Verlängerung der Buchten oder durch eine Abschrägung der Inseln vermindert werden. Das mache man seit geraumer Zeit bei neuen Tunnelbauten in Deutschland. Ein Umbau aller Nothaltebuchten in Schweizer Tunneln könnte allerdings Jahre dauern. Zudem würden riesige Investitionssummen nötig sein.

Jan Dirk Herbermann

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