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Nach dem Erdbeben: Verzweiflung der Opfer schlägt in Wut um

Der Flughafen ist überlastet, die Hilfe erreicht die Menschen bislang kaum. Augenzeugen berichten von drastischen Szenen: Aus Protest würden Leichenberge errichtet.

Retter aus aller Welt haben sich aufgemacht nach Haiti, doch die Hilfe für die Erdbebenopfer in der zerstörten Hauptstadt Port-au-Prince kommt nur sehr langsam an. Noch immer graben die Menschen zumeist mit bloßen Händen in den Trümmern nach Überlebenden. Bereits die dritte Nacht in Folge verbrachten die meisten Bewohner im Freien; aus Angst vor Nachbeben oder weil ihre Häuser zerstört sind.

Korrespondenten internationaler Fernsehsender berichteten von dramatischen Szenen. Nach Berichten von CNN-Korrespondenten wurden massenhaft Tote von den Straßen gesammelt und mit Radladern in große Lastwagen gekippt. Eine Identifizierung der Opfer sei kaum mehr möglich. Dafür fehle es an Zeit und Personal.

Wie die Reporter weiter berichten, wüssten sich die Menschen in Port-au-Prince nicht mehr zu helfen, sie fühlten sich alleingelassen. Und diese Verzweiflung schlüge auch zunehmend in Wut um. So hätten aufgebrachte Haitianer aus Protest gegen die bislang ausbleibende Hilfe Straßensperren aus Leichen errichtet.

"Sie haben angefangen, die Straßen mit Leichen zu blockieren", sagte der Fotograf Shaul Schwarz, der für das Time-Magazin aus dem Katastrophengebiet berichtete. Er habe in der Hauptstadt an mindestens zwei Stellen Barrikaden aus Toten und Steinen gesehen. "Es wird langsam hässlich da draußen", wird er von der BBC und der Nachrichtenagentur Reuters zitiert. "Die Leute haben es satt, dass ihnen nicht geholfen wird."

Auch Angehörige der in Port-au-Prince ansässigen Hilfsorganisationen befürchten, dass sich derartige Szenen mehren und die Spannungen zunehmen könnten, wenn die Hilfe nicht unverzüglich die verzweifelten Überlebenden vor Ort erreiche. "Bisher hat ein Gefühl der Solidarität unter den Überlebenden überwogen", sagte ein Helfer des World Food Programs dem ZDF. "Nun aber droht die Stimmung zu kippen."

"Die Versorgung wird sich in den nächsten Stunden verschlechtern, Wasser, Nahrungsmittel, medizinische Versorgung wird jetzt dringend gebraucht – das kann, wenn nichts bereitgestellt wird, sonst zu Ausschreitungen führen", sagte Urs Bernhard von der Hilfsorganisation World Vision ebenfalls im ZDF. "Es ist ein bisschen grotesk: Die Leichen liegen am Straßenrand und auf der anderen Seite gibt es Markttreiben", erklärte Bernhard.

Laut Deutschem Rotem Kreuz (DRK) sei die Lage in Haiti in vielerlei Hinsicht anders als bei anderen Katastrophen. Schon vor dem Erdbeben hätte der haitianische Staat kaum über funktionierende Strukturen verfügt. "Was jetzt passiert, stellt alles in den Schatten", betont der DRK-Präsident, Rudolf Seiters, im ZDF. Er gehe davon aus, dass die Schätzungen von 50.000 Toten sowie zahlreichen Verletzten zutreffend seien.

Journalisten und Helfern bietet sich in Gänze ein Bild von Chaos, Tod und Verwüstung. Zwischen Leichenbergen und Ruinen irrten Tausende verletzt, hungernd und traumatisiert durch die Trümmerstadt. Erste Zeugen berichten von Plünderungen. Luftbilder zeigten Landschaften wie nach einem Flächenbombardement. Haitis Regierung rechnet mit 50.000 bis 100.000 Toten. Etwa drei der neun Millionen Einwohner Haitis sind nach Angaben des Roten Kreuzes in Not.

Für die Rettungs- und Hilfsteams ist die Lage auch deshalb schwierig, weil durch die Katastrophe auch die Vereinten Nationen (UN) in dem Land und die haitianische Regierung selbst in Mitleidenschaft gezogen worden seien. Nach Einschätzung von Michael Kühn, den Repräsentanten der Deutschen Welthungerhilfe in Haiti, beginnt die UN damit, "sich wieder zu organisieren und die Arbeit zu verteilen, medizinische Hilfe zu organisieren und die Wasserversorgung in die Hände zu nehmen".

Als größtes Hindernis für ein rasches Beginnen der Rettungsarbeiten erwies sich vor allem der beschädigte Flughafen der Hauptstadt. "Dank der sofortigen Hilfe so vieler Staaten haben wir sehr viel Personal und Hilfsgüter. Aber wir müssen sie ja auch ins Land bringen. Die Flughäfen sind der Flaschenhals", klagte UN-Nothilfekoordinator John Holmes. Nachts könnten die Einsatzkräfte nicht fliegen. Zudem gab es kaum noch Treibstoff für die Maschinen, die wieder aus Haiti wegfliegen wollten.

Der Flughafen von Port-au-Prince sei durch das Erdbeben beschädigt und derzeit völlig überlastet. Zeitweise kreisten elf Flugzeuge über dem Flughafen, ohne dass sie auf dem Rollfeld hätten landen können. Die US-Flugbehörde ließ vorübergehend keine Maschinen mehr nach Haiti starten. Später wurde das Verbot für Hilfsflüge wieder aufgehoben, für Chartermaschinen blieb es zunächst weiter in Kraft.

Inzwischen hat das US-Militär die Kontrolle über den Flugbetrieb auf dem Toussaint-L'Ouverture-Flughafen in Port-au-Prince übernommen. Eine Spezialeinheit der Luftwaffe räumte die Rollbahn frei, stellte eine Flugverkehrskontrolle rund um die Uhr auf die Beine und setzte das Beleuchtungssystem instand. Die Luftwaffe will jetzt vor allem Gabelstapler und anderes schweres Gerät nach Haiti bringen, das beim Ausladen von Hilfsgütern helfen soll.

Eine Beschleunigung der Rettungsarbeiten erhoffen sich die Hilfsorganisationen vom US-Flugzeugträger Carl Vinson, der in den Gewässern vor Haiti landen soll. Mit ihm treffen 19 Hubschrauber und Tausende Soldaten ein. Die USA wollen außerdem sechs weitere Schiffe auf den Weg schicken, darunter drei Amphibienschiffe ebenfalls mit Helikoptern und 2200 Marineinfanteristen sowie ein Lazarettschiff. Insgesamt werden sich nach Angaben des US-Südkommandos in Miami am Wochenende mehr als 6000 Angehörige der US-Streitkräfte zur Unterstützung der Hilfsmaßnahmen in Haiti oder in Küstennähe aufhalten.

Priorität habe für die Helfer nach wie vor "Suchen und Retten", sagte UN-Koordinator Holmes. Noch habe er die Hoffnung auf so viele Überlebende wie möglich nicht aufgegeben. "Es ist ganz unterschiedlich, wie lange ein Mensch unter Trümmern überleben kann, abhängig von Kälte, Hitze, Wasser und Nahrung. Aber solange es noch eine Chance gibt, werden wir suchen". Auch Holmes konnte noch keine konkreten Opferzahlen nennen, "aber es sind mehr Tote und Verletzte, als unsere Helfer bewältigen können". Am Nötigsten seien jetzt sauberes Wasser, Nahrungsmittel und Medizin.

Die internationale Hilfsbereitschaft, die dem Beben am Dienstag folgte, macht diese Hilfe möglich. US-Präsident Barack Obama sagte 100 Millionen US-Dollar (rund 69 Millionen Euro) zu. Auch die Weltbank und der Internationale Währungsfonds machten Zusagen in Höhe von je 100 Millionen Dollar. Die USA und Frankreich wollen zudem so schnell wie möglich eine internationale Wiederaufbau-Konferenz für Haiti organisieren. Auch Brasilien, Kanada und andere direkt betroffene Länder sind an den Vorbereitungen beteiligt. Derweil plant die spanische EU-Ratspräsidentschaft für Montag ein Sondertreffen der europäischen Entwicklungshilfeminister.

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Quelle: ZEIT ONLINE, dpa, Reuters, AFP

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