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New Yorks "Little Odessa": Im Zentrum des Skandals um Entschädigungszahlungen

Der Skandal um Entschädigungszahlungen für angebliche Holocaustopfer spielt in New Yorks „Little Odessa“ – ein Ortstermin.

Zu den größten Missverständnissen im Englischunterricht an deutschen Schulen gehört das Bild von New York als „Melting Pot“. Die Metropole an der Ostküste der USA zieht zwar seit Jahrhunderten Einwanderer aus aller Welt an. Doch die verschmelzen nicht, sondern bleiben oft unter sich. New York ist kein Schmelztiegel, sondern ein Mosaik.

Ein buntes Steinchen findet sich am Südzipfel Brooklyns, wo die Subway-Linien B und Q auf einer stählernen Trasse über der Brighton Beach Avenue donnern. Darunter schleppen alte Menschen ihre Einkäufe nach Hause. Sie laufen langsam. Nicht weil die Tüten schwer sind, und nicht weil es Winter wird. Nein, in Brighton Beach verläuft das ganze Leben langsamer. Von der üblichen New Yorker Hektik ist hier nichts zu spüren. Mit der Subway dauert es fast eine Stunde bis ins Zentrum, weshalb die Menschen aus „Little Odessa“ nicht allzu oft da hingehen.

Es ist auch diese Abgeschlossenheit vom Rest der Stadt, die sich die Betrüger zunutze gemacht haben, die im Zentrum des Skandals um Entschädigungszahlungen an Holocaustopfer stehen. Sie schalteten Anzeigen in russischsprachigen Zeitungen. Meist waren es Juden aus Osteuropa, die sich daraufhin meldeten. In ihrem Namen stellten die Betrüger Anträge auf deutsche Entschädigungsleistungen. Wurde ein Antrag bewilligt, so wurde der ausgezahlte Betrag geteilt. Über 16 Jahre hinweg sollen die Angeklagten mit falschen Ausweisdokumenten und frisierten Akten 42 Millionen Dollar (rund 30,5 Mio Euro) an Entschädigungen erschlichen haben. Verantwortlich für den Skandal, der in der vergangenen Woche öffentlich wurde, sind keine gewöhnlichen Kriminellen, sondern Mitarbeiter der angesehenen New Yorker Jewish Claims Conference.

Die vermeintlichen NS-Opfer rekrutierten die Betrüger in Brighton Beach, das Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde und den Namen eines englischen Seebads verpasst bekam. Fast 80 000 Menschen leben in „Little Odessa“. In den 50er Jahren zogen osteuropäische Juden hierher, viele von ihnen Holocaustüberlebende. Zu den Familien der ersten Einwandererwelle gehörten die Eltern von Neil Diamond und Barbra Streisand, die beide in Brighton Beach aufwuchsen, ebenso wie der Fernseh-Talker Larry King.

In den 70er Jahren kamen immer mehr Einwanderer aus der damaligen Sowjetunion. Russisch wurde zur Alltagssprache. Die Zeitungen am Kiosk sind russisch, das Gespräch beim Schuster und die Musik im Supermarkt. Im „Brighton Bazaar“ läuft seichter Russenpop. Hier, im größten Supermarkt des Viertels, kauft man Importiertes aus Russland und Frisches von einem gewaltigen Buffet, das ausschließlich kyrillisch beschriftet ist: Hähnchenschenkel, Knödel, und Blinys in allen Variationen.

„Brighton Beach ist fantastisch“, sagt Bella, eine Mittfünfzigerin aus Moskau, die seit 20 Jahren hier wohnt und ein Kleidergeschäft betreibt. „Bellas Boutique“ steht auf dem Vordach, und drinnen zeigt die Frau auf farbenfrohe Kleider. „Die sind alle importiert“, sagt sie stolz. Aus Russland? Bella lacht: „Natürlich nicht. Wir ziehen keine Kleider aus Russland an. Das kommt alles aus Frankreich und Italien.“

Es schwingt Stolz mit, wenn Bella erzählt, dass Bildung und Einkommen in Brighton Beach überdurchschnittlich hoch seien. „Die meisten hier sind Ärzte, die jungen Leute sind alle Programmierer“, sagt sie. In offiziellen Statistiken zeigt sich das nicht. Aber man kauft Kleider aus Europa, und das ist ja auch schon etwas. Alles andere ist freilich russisch in Brighton Beach: die Matrjoschka-Puppen im „Kalinka Gift Store“ an der Ecke und das Essen im „Tatiana Grill“, dem Restaurant an der Promenade. Es steht direkt neben dem Sandwichladen „Moscow“, laut Eigenwerbung „Russia on the Beach“.

Am Strand spielt das eigentliche Leben von Brighton Beach. Auf den Holzbänken treffen sich die Frauen zum Schwatz und die Männer zum Schach. Eine Schachuhr gibt es nicht, denn es geht nicht um Zeit. Zeit hat man genug. Auch um den Sonnenuntergang zu genießen.

Dass hunderte dieser gemütlich wirkenden Leute von Brighton Beach in einen Millionenbetrug verwickelt sein sollen, drängt sich nicht auf. Sie wussten es bisher auch nicht. Viele in Brighton Beach sind tatsächlich Opfer des Holocaust, viele wurden vertrieben und haben schwere Zeiten in Arbeits- und Konzentrationslagern überlebt. Andere Bewohner von „Little Odessa“ sind keine Opfer des Holocaust, sie waren damals noch nicht einmal geboren. An diese Leute sollen sich die Verdächtigen gewandt haben. 4957 Menschen erhielten in den Jahren 2000 bis 2009 unberechtigt eine Einmalzahlung in Höhe von 3600 Dollar aus dem „Hardship Fund“. Die andere Hälfte der Summe behielten die Betrüger für sich.

„Sie haben mir gesagt, ich bekäme Geld, weil meine Eltern im Ghetto waren“, erzählt eine Frau im Interview mit der „New York Times“. „Sie haben gesagt, ich bekäme 1000 Dollar und sie behielten 3000 Dollar als Verwaltungsgebühr.“ Der „Hardship Fund“ zahlt einmalig 4000 Dollar an Opfer des Holocaust, und die jetzt Festgenommenen fälschten Dokumente, korrigierten Geburtsdaten und erfanden Schicksale. Zahlreiche Fotos, mit denen sie die grauenvollen Erlebnisse ihrer Mandanten in Ghetto und Lager bewiesen, tauchten in Dutzenden Fällen auf und zeigten keine der eigentlichen Antragsteller.

Die Menschen in Brighton Beach sind erschüttert. „Leute, denen wirklich Geld zusteht, werden darunter zu leiden haben“, klagt Pat Singer, die sich die „Mutter der Nachbarschaft“ nennt und im gleichen Haus wohnt wie zwei der Angeklagten. „Das wird uns noch hundert Jahre lang verfolgen.“

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