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Panorama: Niemand hat die Bilder vergessen

Ein Jahr nach der Verhaftung des Kinderschänders Dutroux macht sich in Belgien Ernüchterung breitVON THOMAS ROSER BRÜSSEL.Die Bilder des Schreckens bleiben in Belgien unvergessen.

Ein Jahr nach der Verhaftung des Kinderschänders Dutroux macht sich in Belgien Ernüchterung breitVON THOMAS ROSER BRÜSSEL.Die Bilder des Schreckens bleiben in Belgien unvergessen.Am Mittwoch vor einem Jahr wurde Marc Dutroux wegen des Verdachts der Kindesentführung festgenommen.Zwei Tage später konnte die Polizei die beiden Mädchen Laetitia Delhez und Sabine Dardenne lebend aus dem einem Kellerkerker befreien.Die Freude über die Befreiung sollte bald fassungsloser Empörung weichen.Dutroux hatte noch vier weitere Mädchen entführt, mißbraucht und ermordet: Der Polizei waren bei den Ermittlungen nach den verschwundenen Kindern haarsträubende Fehler unterlaufen. Der "Fall Dutroux" sollte das Königreich der Belgier in seinen Grundfesten erschüttern."Der Tag, an dem die Unschuld in Belgien ermordet wurde", bezeichnete der Publizist Geert van Istendael den 17.August 1996, den Tag, an dem die Leichen der achtjährigen Mädchen Julie und Melissa gefunden wurden: "Belgien wird nie mehr so sein wie zuvor." Zwar hat in Belgien auch niemand die Bilder der ebenfalls ermordeten Mädchen An und Eefje vergessen, die Bilder der Trauer und die Bilder der Verbitterung.Doch ein Jahr danach ziehen die Belgier eine eher ernüchternde Bilanz."In einem Jahr ist viel geschehen, aber es hat sich wenig geändert," konstatiert die Tageszeitung "De Standaard". Die Trauer über die Opfer des Kinderschänder-Rings wich bald der Wut - der Wut auf versagende und bürgerferne Justizbeamte, auf unfähige oder ohnmächtige Politiker, den alles durchdringenden Parteienfilz.Als der Oberste Gerichtshof im Oktober mit Jean-Marc Connerotte ausgerechnet einen der wenigen als integer geltenden Untersuchungsrichter ablösen ließ, weil er an einem Wohltätigkeitsessen zu Gunsten der Opfer teilgenommen hatte, löste er einen Sturm der Entrüstung aus.Eine Woge von Protesten schwappte durch das sonst so ruhige Königreich: 350 000 Menschen beteiligten sich am "weißen Marsch", der größten Demonstration der belgischen Geschichte. Überall im Land gründeten sich weiße Komitees: Die außerparlamentarische Bewegung forderte eine gründliche Erneuerung von Verwaltung und Politik.Eilig sicherte damals die verschreckte Regierung des christdemokratischen Premiers Jean-Luc Dehaene Justizreformen zu.Ein parlamentarischer Sonderauschuß wurde eingesetzt, um den Ursachen der Ermittlungspannen in ungewohnt offener Weise auf den Grund zu gehen.Dem Abschlußbericht, der einschneidene Reformen vorschlug, stimmte das Parlament im April noch einstimmig zu. Doch der einzige Politiker, den der Ausschuß als einer der Verantwortlichen für die Pannen im Fall Dutroux genannt hatte, kam ungeschoren davon: Der frühere Justizminister Melchior Wathelet wurde erneut für einen wohldotierten Richterposten am Europäischen Gerichtshof nominiert.Zwar wurde der Etat des Justizministeriums aufgestockt, doch die versprochenen Reformen lassen auf sich warten: Innerhalb der Regierung wächst der Widerstand gegen die vorgeschlagene Schaffung einer Einheitspolizei. Ermüdungserscheinungen zeigt auch die "weiße Bewegung".Einige Eltern der verschwundenen Kinder haben sich hoffnungslos zerstritten, andere haben wegen des Vorwurfs des Mißbrauchs von Spendengeldern sich entnervt aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.Nur noch ein paar hundert Demonstranten vermochte die weißen Komitees im Juni zu mobilisieren. Das vorherrschende Gefühl, daß sich in Belgien doch nichts verändert, illustrierte eine am Wochenende veröffentlichte Umfrage der Zeitung "La Derniere Heure".Ihr zufolge sind nur noch zehn Prozent der Bevölkerung bereit, an einem weißen Marsch teilzunehmen - obwohl 90 Prozent davon überzeugt sind, daß Dutroux "Schutz von oben" genoß. Die Ermittlungen im Fall Doutroux scheinen kaum mehr voran zu kommen.Die meisten der 14 Verdächtigen, die als mutmaßliche Komplizen von Doutroux verhaftet wurden, sind wieder frei.Spekulationen über ein internationales Kinderporno-Händlernetz, das sich bis in politische Kreise erstrecken soll, konnten bisher genauso wenig bewiesen werden wie der Verdacht, daß Dutroux den Schutz einflußreicher Hintermänner genoß.In der aufgeheizten Gerüchteküche Belgiens geriet im November völlig zu Unrecht der als homosexuell geltende Vize-Premier Elio di Rupo in den Verdacht der Pädophilie.Doch die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe eines fragwürdigen Zeugen erwiesen sich als vollkommen haltlos. Mit dem Beginn des Prozesses gegen Dutroux wird erst Ende des nächsten Jahres gerechnet.Seine überlebenden Opfer haben nach ihren traumatischen Erfahrungen Mühe, sich wieder an das normale Leben zu gewöhnen.Aus der einst so fröhlichen Sabine Dardenne ist ein sehr schweigsames Mädchen geworden: Ein von Nachbarn geplantes Fest anläßlich ihrer einjährigen Befreiung wurde auf Bitte der Familie abgesagt.Die Mutter der 15jährigen Laetitia berichtete im April, daß ihre Tochter sich kaum mehr auf die Straße traue: "Viele Jungen beschimpfen sie als Hure.Niemand kommt uns noch besuchen."

THOMAS ROSER

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