zum Hauptinhalt
2013 kam es in Deutschland zu 5900 „Unfällen mit Rindvieh“ – 1200 mehr als drei Jahre zuvor.

© Tiemo Rink

Philipp Wenz hilft Viehzüchtern: Der Kuhflüsterer

Es ist ein recht neues Problem: das gestörte Verhältnis von Landwirt und Kuh. Und ein gestresstes Tier bringt kein Geld. Philipp Wenz ist oft die letzte Rettung. Er erzieht beide Seiten – zu mehr Nettigkeit.

Natürlich bekommt er mit, dass die Menschen komisch gucken, wenn er seine Sätze sagt. „Ich habe es oft mit Melkverweigerern zu tun“, ist so ein Satz. „Melken gehört zum Leben dazu“, lautet ein anderer. „Gucken Sie mal dahinten, sehen Sie den Herdenspalter?“, ein dritter. Wie gesagt, natürlich merkt er die Irritationen, die Blicke, die zuckenden Mundwinkel, er ist ja nicht bescheuert. Aber was soll er machen, wenn’s halt so ist.

Ein Montagmorgen in Sachsen-Anhalt, ein Bauerndorf irgendwo in der Nähe der Elbe. Philipp Wenz – 45, Ärmelschoner an der Jacke, Computertasche in der Hand – betritt einen Flachbau, in dem vor längerer Zeit einmal die ortsansässige LPG ihre Feste feierte. Der Parkettboden ist aufgequollen, steht unter Spannung wie ein hölzernes Trampolin. Im hinteren Raum sitzt ein gutes Dutzend Bauern und guckt, wie man halt guckt, wenn da ein Fremder kommt, der alles besser kann. Wenigstens ihre zwei Chefs freuen sich, Wenz zu sehen. Sie haben ihn eingeladen, denn er soll ein Problem lösen. Eines, das sie hier zwar alle haben, aber es ist ja doch ein Unterschied, wenn einem die Chefs Zugereiste vor die Nase setzen, die einem dann erzählen, dass man an seinen Problemen selber schuld ist.

Die Zahl der verletzten Bauern steigt

Ihr Problem ist die Kuh. Es sieht so aus, als hätten Bauern und Kühe sich in den vergangenen Jahren auseinandergelebt. Wenn es nach der Kuh geht, dann könnte das an sich ein akzeptabler Zustand sein. Aber in der Landwirtschaft ist es ja doch eher der Bauer, der das letzte Wort hat. Das wiederum gefällt dann der Kuh nicht. Und so steigt seit Jahren die Zahl der verletzten Bauern. 2013 gab es in Deutschland mehr als 5900 „Unfälle mit Rindvieh“, wie die Sozialversicherung für Landwirtschaft mitteilt, fast 1200 mehr als noch drei Jahre zuvor. Im Jahr 2012 starben bundesweit 15 Bauern bei der Arbeit mit Kühen. Und natürlich: Eine gestresste Kuh verliert an Appetit. Folglich dauert es länger, bis sie schlachtreif ist – und Geld bringt.

Philipp Wenz.
Philipp Wenz.

© Tiemo Rink

Das gestörte Miteinander von Bauer und Kuh ist ein verhältnismäßig neues Problem, sagen sie an diesem Morgen in Sachsen-Anhalt. Zu DDR-Zeiten gab die Kuh vielleicht 4000 Liter Milch pro Jahr, das Futter wurde auf den Weiden angebaut. Mit der Wende kamen leistungssteigernde Futtermittel. Plötzlich konnte dieselbe Kuh jährlich bis zu 8000 Liter Milch geben, die vorher benötigten Anbauflächen lagen brach. Weil es keine gute Idee ist, als Bauer seine Flächen nicht zu bewirtschaften, stellten sie da halt Kühe drauf. Landleben entstand, auch vor dem Hintergrund des aufkommenden Biobooms.

Mit Stall und Bauer haben diese Kühe nur noch selten zu tun. Aber doch oft genug, um aneinander zu geraten, und damit sich das ändert, ist Wenz jetzt da. Es gibt Menschen, die nennen ihn den „Kuhflüsterer“, das fand er lange Zeit nicht so gut. Klingt so, als sei er ein Spinner, ein Esoteriker mit Neigung zum vagen Gequatsche. Seit acht Jahren reist er als Berater durchs Land, besucht konventionelle Großbetriebe. Oder – wie an diesem Tag – einen Biohof in Familienhand. Die Probleme sind oft dieselben. „Die Kuh ist doof“, sagen die Bauern. „Der Bauer ist schuld“, sagt Wenz, denn der respektiert die Kuh nicht. Wer einen Termin bei ihm haben will, muss mindestens einen Monat warten. Wenz ist ausgebucht.

Die Kuh macht alles, was der Mensch will

Seine Kernaussage: Die Kuh macht alles, was der Mensch will. Wenn er es ihr nett genug sagt. Streng genommen fängt bei der Kuh alles an. Bei ihren Emotionen, wie sie so drauf ist, worauf sie Wert legt. Meistens hat sie Angst, die Kuh, das muss man akzeptieren und sich darauf einstellen, sagt Wenz. Gegen die Kuh kämpfen bringt nichts, da kann der Bauer noch so stark sein. Die Kuh ist stärker. Immer.

Dann quetscht sie den Bauern ein, zwischen Kuhkopf und Boden ist aus Sicht der kämpfenden Kuh locker Platz für einen Menschen. Ist der Boden aus Beton, dann ist das schlecht für den Bauern, sagt Wenz. Wenn es nach der Kuh geht, dann ist der Bauer eine Art Lückenfüller: passt gut in jede Ecke. Wird passend gemacht. Das findet der Bauer aus verständlichen Gründen nicht so prima, dabei ist er es aus Kuhsicht doch gewesen, der angefangen hat. Der sie in den Stall treiben will, zum Klauenschneiden, zum Melken, zur Schwangerschaftskontrolle, zur Blutprobe, schließlich: auf den Hänger, der zum Schlachthof fährt.

Weil der Bauer auch Angst hat vor der Kuh, kommt er bei solchen Gelegenheiten gerne mit dem Jeep angefahren. Trägt einen Knüppel in der Hand und hat Verstärkung mitgebracht. Dann treiben sie die Herden mit Gebrüll und Alarm dahin, wo sie sie haben wollen. Es können ganze Tage dabei draufgehen und am Ende steht die Herde immer noch da, wo sie anfangs stand. Und der Bauer ist sauer.

Zwischen Mensch und Kuh liegt einiges im Argen

Soweit die Praxis auf den Weiden und damit zur Theorie in der alten LPG-Kneipe. Viele Quereinsteiger unter den Zuhörern, in der Landwirtschaft herrscht Fachkräftemangel, und so steht Wenz, der studierte Agrar-Ingenieur, vor ehemaligen Maurern, Ofenbauern und Heizungsmonteuren und erzählt. Aufgewachsen in Dortmund, erfuhr er später als Betriebsleiter eines Hofes in Mecklenburg-Vorpommern, dass zwischen Mensch und Kuh einiges im Argen liegt. Also fuhr er nach Texas und lernte bei dem Viehzüchter Bud Williams, wie sich die Verhältnisse auf dem Hof entspannen lassen. Dass man seitlich an der Herde vorbeigehen soll, dass die Kuh fast automatisch stehen bleibt, wenn der Bauer auf Höhe ihrer Schulter angelangt ist. Dabei muss er sie nicht anfassen, es reicht, wenn er da steht, auch Meter entfernt vom Tier. Warum sie stehen bleibt? Egal, sie tut es halt. Er lernte, dass auch eine Kuh Privatsphäre hat, wer ihr zu nahe kommt, zwingt sie zum Gehen. Und dass es darauf ankommt, so kalkuliert in diese Sphäre einzudringen, dass die Kuh in die Richtung geht, die der Bauer haben will. Und wie?

„Dafür gibt es den Zickzack-Gang“, sagt Wenz, und zeichnet Schaubilder auf ein Flipchart. Viele Linien – das sind seine Laufwege. Viele Kugeln – das sind die Kühe. Viele Kreise – das sind die Reaktionszonen der Kuh. Die Kuh – technisch gesehen eine reine Manövriermasse. Wenn Wenz vom Kuhtreiben redet, geht es um Innenlenkung, indirektes Treiben, Vorhaltungen und Einfallswinkel. Es gibt sicher nicht viele Möglichkeiten, um ein gutes Dutzend sachsen-anhaltinischer Bauern an einem Montagmorgen aus dem Takt zu bringen. Wenz beherrscht eine davon. Und dann noch diese Sache mit der Stimme. Grob gesagt: Nur ein schweigender Bauer ist ein guter Bauer.

Geräusche braucht kein Tier

„Man macht sich als Mensch nicht klar, was die Tiere brauchen“, sagt Wenz. Dabei müsste man sie nur beobachten. Geräusche etwa brauchen sie nicht. Kein beruhigendes Schschsch, kein freundliches Hallo, am besten einfach Klappe halten. „Die Kuh selbst sagt ja auch nichts“, sagt Wenz. Zumindest nicht, solange es ihr gut geht. Von Haus aus ist die Kuh ein schweigsamer Zeitgenosse, vielleicht liegt es daran, dass als Beutetier eine diskrete Geräuschkulisse von Vorteil ist. Muss ja nicht jeder gleich wissen, dass man da ist.

Wenn sie doch einmal was sagt, dann neigt sie zu Vorwürfen. Selbst ein Willkommensmuh ist immer mit der Frage verbunden, wo der andere gewesen ist, sagt Wenz. „Ich hab mir Sorgen gemacht, wo hast du denn gesteckt, so in der Art.“ Einzige ihm bekannte Ausnahme: Es gebe da ein vertrauensvolles „Möken“ zwischen Kalb und Kuh. Im Großen und Ganzen aber ist die plaudernde Kuh nicht sein Spezialthema.

Darum sollen sich die Theoretiker kümmern. Sie tun es mit großem Ernst. Die zentrale Frage: Was meint die Kuh wirklich, wenn sie Muh sagt? Wissenschaftler der Technischen Hochschule in Zürich haben zusammen mit Kollegen der Universität Nottingham sowie der Londoner Queen-Mary-Universität unlängst Antworten gefunden. Sie belauschten über Monate zwei britische Herden und kamen auf insgesamt drei unterschiedliche Muhs. Muh eins: Kalb hat Hunger und sucht Mutter. Muh zwei: Mutter hat zu viel Milch und sucht Kalb. Muh drei: Kalb ist fast bei Mutter angekommen, Mutter sagt Muh.

Zickzackkurs und immer scharf an der Herde vorbei

Erkenntnisse aus der Kategorie „unnützes Wissen“? Nicht unbedingt, findet Wenz. Sondern eher Anzeichen dafür, wohin die Reise in der Tierhaltung künftig gehen könnte: zum komplett technisierten Kuhstall. Mikrofone zeichnen jedes Geräusch der Tiere auf, eine Software erkennt die Aussage, dann kommt Futter, die Melkmaschine oder der Besamungstechniker. Schon heute gebe es Sensoren an Kuhhälsen, die erkennen sollen, wann eine Kuh brünstig ist. Der Sensor misst Kaubewegung und Beinbewegung, zieht daraus seine Schlüsse. Faustregel: Wer wenig isst und viel herumläuft, hegt Kinderwünsche. Wenz hält nicht viel von dieser Entwicklung. Fachkräftemangel hin und her, grundsätzlich gebe es nichts in der Landwirtschaft, was der Mensch nicht besser könne als der Computer. Und zumindest auf der Weide hätten Mikrofone und Computer eh keine Chance, viel zu weitläufig.

Am nächsten Tag: Showdown. 60 Kühe und ein Dutzend Männer. Die Kühe sollen in den Stall. Stall finden die Kühe doof. Männer, die auf Kühe starren. Kühe, die auf Männer starren. Kühe, die abhauen, einmal ans andere Ende der Weide. Alles wie immer also. Jetzt soll der Wenz mal zeigen, was er kann, finden die Bauern. Wenz läuft los, Zickzackkurs und immer scharf an der Herde vorbei. Dann näher, Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel, vor und zurück. Eine graue Kuh am Rand, nervös, trabt herum, steht quer zu den anderen. Die Graue ist der „Herdenspalter“, diagnostiziert Wenz. So ein Herdenspalter ist ein echtes Problem, mit seiner Hektik kann er andere anstecken, aufstacheln, und plötzlich gilt der Hysteriker als Kompetenzler, dem sie alle hinterherrennen und dann geht alles von vorne los.

Geld verdienen sie mit Gülle, nicht mehr mit Milch

Knöcheltiefer Kuhmist auf der Weide, Regen, der langsam in Schneeregen übergeht. Tolles Wetter, um Kühen hinterherzulaufen. Aber immer noch besser als beim letzten Elbehochwasser im Sommer, findet einer der Bauern, als sie wegen der vielen Bremsen mit Gesichtsschutz auf die Felder mussten, umkreist von schwarzen Insektenwolken. So vergessen sie Wenz’ eiserne Regel und geraten langsam ins Plaudern. Strukturwandel als Thema, Tenor: Früher war auch viel Quatsch dabei, aber so schlimm wie heute ist es nicht gewesen. Natürlich machen sie mit beim Biotrend, was sollen sie auch sonst tun, die Anreize sind zu groß.

So pflanzen sie Mais an mit der Absicht, ihn zu Treibstoff zu verarbeiten, auch wenn sie sich damit auf Dauer die Vielfalt ruinieren. Die Cleveren haben Biogasanlagen gebaut, die sie mit der Gülle ihrer Kühe befeuern. Weil der so produzierte Strom zu subventionierten Festpreisen ins Netz eingespeist wird, ist es mittlerweile so weit, dass die Milch in manchen Fällen nur noch das Nebenprodukt der Warenkette ist, sagt einer. Geld verdienen sie mit Gülle, nicht mehr mit Milch.

Die Kühe furzen uns ins Unglück, hat Rainald Grebe mal gesungen, und das sehen sie hier durchaus anders. Stattdessen kacken die Kühe sie in eine Gewinnzone, in die sie mit dem Verkauf von Milch schon längst nicht mehr kämen. So sieht Bioboom in der Praxis eben auch aus, und man kann es ihnen nicht mal wirklich vorwerfen, sie schütteln ja selber den Kopf darüber. Krank ist das, sagt einer, komplett krank. Und auch die Viehhaltung auf der Weide mag zwar ein gutes Image haben, hat aber auch ihre Schattenseite: den Kolkraben.

Als erstes gehen die Mutigen

Wenn Kälber nicht mehr im Stall sondern auf der Weide geboren werden, dann liegt anschließend die Nachgeburt im Gras. Die schmeckt dem Kolkraben recht gut. So gewöhnte er sich an die neuen Weidenbewohner – und dummerweise schmecken ihm auch neugeborene Kälber recht gut, wenn sie nach der Geburt hilflos im Gras liegen. Wenn die Mutterkuh ihr Kalb für einen Moment unbeobachtet lässt, kommt der Rabe und pickt ins Kalb. Ein Bauer verlor im Jahr 2013 insgesamt zwölf Kälber durch Kolkraben-Angriffe. So richtig nachhaltig finden sie das hier nicht, aber bevor schlechte Stimmung aufkommt, bewirkt Wenz ein Wunder: Er treibt die Herde in den Stall. Begeisterung.

Und anschließend wieder auf die Weide. Sich steigernde Begeisterung. Vor dem Stall ist ein vielleicht 30 Quadratmeter großer Käfig aufgebaut, da werden die Kühe durchgeschleust und alles klappt prima. Als erstes gehen die Mutigen, dann kommen die Zauderer und am Ende bleiben zwei übrig: eine große und eine kleine. Im Käfig angekommen dreht die große durch, nimmt Anlauf und rennt mit dem Kopf gegen das Gitter. Es löst sich an einer Seite, die Kuh bricht durch und biegt – Glück für Wenz, von dessen Methode man sich anschließend wohl noch lange im Dorf erzählt hätte – nicht auf die Dorfstraße ein. Sie überspringt einen Elektrozaun und rennt zurück auf die Weide, die kleine hinterher.

Bilanz: 58 zu zwei für Wenz. Das macht die Kuh nicht noch einmal, sagt der Bauer. Naja, vielleicht doch: ein letztes Mal. Wenn in ein paar Tagen der Schlachthof einen Transporter schickt. Und die Kuh nicht einsteigen will.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Zur Startseite