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Panorama: Physikstunde im Gericht

Im Eschede-Prozess kommen nun die Gutachter zu Wort – im Mittelpunkt steht der Radreifen

Als der Vorsitzende Richter Michael Dölp Ende August in Celle den Strafprozess um die ICE-Katastrophe von Eschede eröffnete, schlugen die Gefühle hoch. Angehörige der 101 Todesopfer des Unglücks vom 3. Juni 1998 ließen vor Gericht ihrer Trauer freien Lauf, im Zeugenstand brachen Menschen immer wieder in Tränen aus.

Spätestens seit Mittwoch, seit das Gericht wegen der vielen Beteiligten im großen Schwurgerichtssaal in Hannover tagt, ist das vorbei. Künftig werden Physik und Mathematik, Fliehkräfte, Belastungstests und Metallkunde die Hauptrolle spielen in einem der größten Strafrechtsverfahren der deutschen Justizgeschichte.

Ein Kopfnicken zur Begrüßung hier, ein Händeschütteln da – man kennt sich als Fachmann für Radreifentechnik von internationalen Kongressen. „Geballter Sachverstand“, so nannte es der vorsitzende Richter. Doch nicht alle der 13 Experten aus Südafrika, Schweden, Japan, der Schweiz und Deutschland sind gut aufeinander zu sprechen. In ihren schriftlichen Gutachten zur Ursache des tödlichen Radreifenbruchs haben einige sich gegenseitig sehr heftig widersprochen. Das ging bis zu Vorwürfen, nicht richtig rechnen zu können.

Von diesem 30. Verhandlungstag an, bis mindestens Ende Februar, können die Gutachter sich nun von Angesicht zu Angesicht auseinandersetzen. Michael Dölp schickte ihren Expertisen mahnende Worte voraus. „Es besteht die Gefahr, dass die bisher sachliche Basis des Prozesses aufzuweichen droht“, sagte er. Beteiligte hätten sich nicht nur fachlich, sondern auch persönlich angegriffen gefühlt. „Juristen und Ingenieure müssten in der Lage sein, sachlich miteinander umzugehen“, meinte Dölp und forderte, auf „Profilierungsgehabe“ und unnötige Fachausdrücke zu verzichten. Dies sei „kein Fachkongress für Radreifentechnik“, sondern der Versuch, ein Geschehen mit schrecklichen Folgen aufzuklären.

101 Menschen waren bei dem ICE-Unglück am 3. Juni 1998 bei Eschede im Kreis Celle gestorben, 105 weitere trugen teils lebenslange Verletzungen davon. Zwei Ingenieure der Bahn und ein Ingenieur des Reifenherstellers sitzen seit August auf der Anklagebank. Sie hatten den gummigefederten Radreifen für den Einsatz im Hochgeschwindigkeitszug entworfen und genehmigt, dessen Bruch zu der Katastrophe führte. Sehr gründlich hat sich das Gericht in den vergangenen vier Monaten in Celle mit dem Hergang des Unfalls und mit den Auswirkungen auf die Opfer beschäftigt. Jetzt dreht sich alles um Radreifen und die Frage, ob der Reifen von Eschede zu weit abgefahren und sein Bruch womöglich vorhersehbar war.

So ist denn auch vor der Richterbank mannshoch die Nachbildung eines ICE-Rades aufgebaut worden. Und das „Unglücksrad“ liegt mit seinen Bruchstellen und abgelösten Gummiteilen auf dem Fußboden. Zunächst führte an diesem Tag ein Ausfall der aufwändigen Dolmetsch-Anlage, dann vor allem Anträge der Verteidiger zu Verzögerungen. Die Beratungspausen gaben Ed Fagan Gelegenheit, wieder einmal Medienvertreter um sich zu scharen. Der amerikanische „Staranwalt“ hat in den USA eine Sammelklage von Eschede-Opfern um Schmerzensgeldforderungen eingereicht. Auch Heinrich Löwen, der Vorsitzende der Selbsthilfe Eschede, hat sich dort angeschlossen. Von der Auseinandersetzung der Gutachter im Strafprozess erhofft sich der Lehrer aus Passau Aufklärung darüber, warum seine Frau und seine Tochter 1998 in Eschede sterben mussten. Mit den drei Angeklagten, sagte Löwen in einer Pause, spüre er „eine Spur von Mitleid“. Es sei „nicht ganz fair“, dass nur sie verantwortlich gemacht würden, nicht aber der Bahnvorstand.

Von heute an werden die Gutachter ihre Stellungnahmen vortragen. Das Gericht lässt zunächst nur Verständnisfragen, später eine Diskussion der Ergebnisse zu. „Zwei Stunden bis eine Woche“, meinte der erste Gutachter, werde sein Vortrag wohl dauern. Richter Dölp betonte, „fix, fertig, falsch“ komme für die Kammer jedenfalls nicht in Frage. Gutachter Kenji Hirakawa aus Japan verriet am Rande, er stelle sich darauf ein, auch noch im März im Hotel in Hannover zu wohnen.

Gabriele Schulte[Hannover]

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