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Damals eine Protestgeste, heute Alltagsverhalten? In San Francisco, wo der 70er Jahre Sommer of Love gefeiert wurde, gilt heute ein Nacktheitsverbot, in Berlin liegen die Nackten überall herum.

© picture alliance / dpa

Prüderie und Nacktheit: Der Sommer bringt’s ans Licht: die nackte Wahrheit

Zum Entkleidungstrend in deutschen Städten zwei Fragen: Gibt es ein allgemeines Menschenrecht auf völlige Nacktheit fast überall im öffentlichen Raum? Und: Muss das sein? Eine Kolumne

Eine Kolumne von Peter von Becker

Sommer und Ferien, es geht wieder los in Berlin und dem Rest der Republik. Im Idealfall sind’s, von Staus und Sonnenbränden abgesehen, paradiesische Zeiten. Denn auch im Paradies muss viel sommerliche Wärme geherrscht haben, Mann und Frau waren ja noch nackt, und die Ferien währten ewig.

Womöglich aber herrschte im Paradies eine gewisse Langeweile, so ganz ohne Arbeit und Aufgaben. Auch stellt sich die Frage, ob Adam und Eva, die beiden ersten Nackten, eigentlich schon Sex hatten, bevor sie vom verbotenen Baum der Erkenntnis aßen. Das war der berühmte Sündenfall, und erst damit hatte Gott (oder eine Göttin) wohl auch das erotische Begehren erfunden, die Liebe und den Tod, die Arbeit und die Scham, das Feigenblatt und zwischen allem die Fortpflanzung (siehe Kain und Abel). Plus Krieg und Frieden.

Aus der Arbeit entstanden Technik und Kultur, aus dem Feigenblatt Kleidung und Mode, die Kunst der Verhüllung wie der Enthüllung. Wird aber diese wechselseitige Kunst eine einseitige, dann drohen: Tugendterror oder Freiheitsfuror. Den Tugendterror der möglichst vollständigen Verhüllung (besonders von Frauen) exerzieren heute vor allem religiöse Fundamentalisten. Der furiose Drang zur möglichst völligen Befreiung des Körpers von seiner Bekleidung ist dagegen ein Projekt der Libertinage, des säkularen Exhibitionismus’.

Früher, als die Gesellschaft sich selbst im Sommer noch in Korsette und Krägen, auch Vatermörder genannt, einschnürte, war die beginnende Freikörperkultur tatsächlich ein Moment der Emanzipation. Für Mann und Frau und wider eine im Wortsinn verschwitzte Moral. Diese Freiheitsbewegung gipfelte schon ab dem Jahr 1900 auf dem Monte Verità, dem „Berg der Wahrheit“ im Schweizer Tessin, wo in Ascona die Zeugnisse der dort einst auch nackt beim Weinbau oder bei pazifistischen Diskussionen engagierten Europäer und Weltbürger in der gerade neu eröffneten Dauerausstellung zu besichtigen sind. In der DDR, zwei bis drei Epochen später, hatten dann private Freiheit und sommerliche Freikörper auch noch ein wenig miteinander zu tun. Doch ohne Utopie und Programm.

Die meisten Menschen sehen angezogen einfach besser aus

Inzwischen haben sich die Zeiten geändert, und viele geben ihren Körper heute schier überall preis. Ob im Internet oder inmitten der Großstadt. In München zum Beispiel sitzen und liegen die Sommernackten seit Langem (nur) im Englischen Garten am Eisbach, ganz nah beim Haus der Kunst, das jener „Führer“ erbaute, der, obwohl millionenfach gefilmt und fotografiert, von sich nie mehr Haut als die seines Gesichts und seiner Hände preisgab. Das war das andere, weniger menschliche Extrem.

In Berlin, der Hauptstadt, hausen die Sommernackten indes nicht nur im Tiergarten, sondern potenziell fast auf jedem Grün und an jeglichem Gewässer.

Das gibt es so vergleichbar in keiner mir bekannten Haupt- oder Großstadt auf diesem Planeten. Und es stellen sich auch für durchaus liberale, säkulare und einigermaßen unverklemmte Zeitgenossen ein paar Fragen: Gibt es wirklich ein allgemeines Menschenrecht auf völlige Nacktheit fast überall im öffentlichen Bade- und Sonnenraum? Und: Muss das sein?

Es leben ja auch Mitmenschen, Mitbürger in Berlin, die haben, ob sie aus Amerika, Arabien oder Asien stammen, ein etwas anderes Schamgefühl als der entfesselte deutsche Mittelstand. Längst sind’s nämlich nicht bloß Proll und Prollin, die an der Krummen Lanke, am Teufelssee und anderen Orten ihr Intimpiercing mitsamt Genitaltattoo zur Ansicht bieten.

Die Weltoffenheit einer multikulturellen Stadt meint schließlich auch eine gewisse Rücksichtnahme auf eigene und andere Kulturen. Auf Menschen mit einem empfindlicheren Schamgefühl.

Das hat nun nichts mit Prüderie, Religion, Kopftuch oder gar Burkini zu tun. Nein, es geht eher darum, dass eine vermeintliche Progressivität oft peinlich wirkt. Jugendliche, zumal in der Pubertät, haben da ein sehr natürliches Fein- und Schamgefühl, sie finden die nackten Älteren (und gar Eltern) besonders peinlich.

Scham als Gegensatz zur Schamlosigkeit oder Unverschämtheit hat durchaus etwas mit Respekt zu tun. Und sogar mit Ästhetik. Denn trotz allem Körperkult, den diese Woche die „Zeit“ zum Titelthema macht, sehen schätzungsweise 80 Prozent der Menschen angezogen einfach besser aus als nackt. Zumal in westlichen Breiten, wo der Tattoo-Wahn mittlerweile einen Teil der Menschheit als haut- und hirnkrank erscheinen lässt. Auch das ist – die nackte Wahrheit.

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