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Der Baikal, tiefster See der Erde.

© Nik Afanasjew

Quer durch Russland 12: Im Angesicht des unendlichen Baikalsees

Viel wurde über die Weite Russlands geschrieben. Sie begreifen? Keine Chance. Aber der Versuch am wasserreichsten See der Erde kann auch interessant sein.

Unser Autor Nik Afanasjew reist zwei Monate lang quer durch Russland, um zwei schwere Fragen zu beantworten: "Wie ticken die Russen? Und warum sind sie so?"

Es ist unmöglich, sich die Ausmaße Russlands vor Augen zu führen. Alle Zahlen über das größte Land der Erde bleiben am Ende abstrakt. Der Kopf weigert sich, seine internen Parameter auf unendlich umzustellen.

Ich bin nach langer Reise am Baikalsee angekommen. Das ist der tiefste See der Erde, er enthält 20 Prozent der weltweiten Süßwasservorräte. Um noch einen draufzusetzen und den anderen Seen wirklich zu zeigen, dass sie ihm nicht das Wasser reichen können, ist der Baikal gar nicht für immer und ewig See, sondern der künftige fünfte Ozean des Planeten Erde. Tschüss, ihr Loser, ich bin dann mal weg, sagt er irgendwann zu den anderen Seen. Natürlich passiert das in fernster Zukunft, in irgendwelchen aberfantastimilliarden von Jahren, aber was ist schon die Ewigkeit im Angesicht der Unendlichkeit des vor meinen Augen liegenden Baikalsees.

Mein Kopf versucht all die Parameter herunterzurechnen, um sie irgendwie in seine arg begrenzten Kapazitätsgrenzen hineinzuzwängen. Er sucht mit Hilfe meiner Augen nach Zahlen, die beherrschbar wirken. Da, die Nord-Süd-Ausdehnung: 636 Kilometer! Das ist doch irgendwie gefühlt so weit wie von Hamburg hinter den Weißwurst-Äquator, das lässt sich verstehen, in ICE-Stunden messen, sogar mit dem Fahrrad durchfahren... aber natürlich gibt es weder eine Schnellbahn noch einen Radweg rund um den Baikal. Es gibt überhaupt keinen Weg rundherum, der Norden ist vom Süden faktisch abgeschnitten. Hindernisgrund: Wald.

Ein russischer Extremwanderer hat zuletzt versucht, den See zu umkreisen, der Versuch endete im Krankenhaus, wahrscheinlich ein Zeckenbiss, beziehungsweise mehrere Zeckenbisse, so erzählen es mir Dorfbewohner. Es wäre schon sehr mies, wenn der gigantische Baikal etwas so kleines wie Zecken eingesetzt hätte, um den Wanderer aufzuhalten, aber gut, der Baikal hat wohl einen Sinn für Humor, wenn auch einen sehr fragwürdigen.

Russische Weite ist, wenn ohne Humor alles zu weit zu lang zu groß zu viel wird.

Ich muss dabei deutlich sagen: Der Baikalsee ist weit davon entfernt, das ganz abgelegene Russland abzubilden. Um sein Südende herum führt die Transsibirische Eisenbahn, westlich von ihm liegt die Großstadt Irkutusk, östlich die Hauptstadt Burjatiens, Ulan-Ude. Das hier ist die Unendlichkeit am Rande der Zivilisation, nicht die Unendlichkeit fernab von allem. Vielleicht wirkt sie auf mich deshalb schon so stark, weil sie hier noch gar nicht so unendlich sein dürfte.

Und so gibt es hier, mitten in Russland, viel zu weit weg von allen sieben Weltmeeren, einen 25 Kilometer langen Sandstrand. Rechts von mir reicht der Strand bis an die knapp zwei Kilometer hohen Felsen der Halbinsel Svatoj Nos. Wenn ich nach links gucke, verschwindet die Küstenlinie irgendwann im Dunst. Ich frage Dima, mit ich hergekommen bin, wie der 25-Kilomter-Strand  endet. „Da kommt ein Fluss.“ Ich will wissen, was hinter dem Fluss kommt. „Mehr Sandstrand.

Dima ist 28, hat kurze Haare, redet ruhig und gebraucht wenige Worte, er fährt Besucher seit acht Jahren nach Svjatoj Nos. Das heißt übersetzt Heilige Nase. Die Halbinsel wurde zuerst von Mönchen besiedelt, die dort „Abgeschiedenheit“ suchten, wie Dima vermutet. Die Bewohner der etwa 100 Häuser leben noch heute ohne Strom. Die gesamte Gegend ist ein Nationalpark.

Es gibt Fischsuppe und geräucherten Omul

Dima hat den Bulli mit den Besuchern, von denen ich einer bin, gefahren. Er hat unterwegs auch etwas über die Gegend erzählt und als wir dann auf ein Boot steigen, um dorthin zu fahren, wo keine Schotterpiste mehr hinführt, bereitet er in der Kombüse in einer halben Stunde ein Mittagessen zu, das sicherlich das beste ist zwischen hier und hinterm Horizont. Es gibt Fischsuppe und geräucherten Omul, einen Verwandten des Lachs, der diesen seinen Verwandten Lachs bei Familienfesten leicht als Tischgespräch übertrumpfen könnte.

Als ich sehe, dass aus der Kombüse eine zweite Tür führt, befürchte ich kurz, dass Dima mit einer Hand noch das Boot lenkt, während er mit zweiter die Suppe umrührt. Aber nein, ein Kapitän ist zur Stelle und hat sogar eine Kapitänsmütze an.

Wir kommen, bei heißen Thermalquellen an einem Felsen vor einem Berg am Baikalsee und  plötzlich steht eine Frau in Polizeiuniform auf dem Boot und erklärt Benimmregeln. Kein Müll, keine Randale „und bitte den Sand von den Füßen abstreifen, bevor ihr ins Wasser geht!“

Ich mülle daraufhin kaum, benehme mich ordnungsgemäß und streife ab, was das Zeug hält. Dann stelle ich fest, dass neben unserem Boot ein Souvenirschiff hält, eine Schiffsgattung, die sicherlich nicht in allen Ländern der Welt zur Standartausstattung der jeweiligen Marine gehört. Ich betrete das Schiff über die wackelige Stelling und stehe plötzlich vor der Polizistin. Sie verkauft auch die Andenken. Anhänger aus Lehm, Bücher mit Fotos von Baikal. „Deutschland, ah!“ Wir unterhalten uns... eine andere Frau kommt hinzu, Bier, Oktoberfest, Migrantenhorden... Deutschland im Ausland ist immer auch das Deutschland der CSU.

Manche schmeißen aber auch Zigaretten oder Bonbons...

Ich kaufe a Lehmzipferl, verhandeln muss sein, 300 statt 350 Rubel, das sind 4,20 Euro, „aber nur wenn Sie es keinem verraten!“

Der Busfahrer-Fremdenführer-Koch Dima und die Souvenirhändlerin-Polizistin: russische Weite ist, wenn jeder Mensch mehrere Rollen ausfüllt.

Auf dem Rückweg bleiben wir an einem „Burhan“ stehen. Das sind heilige Orte, die einem Reisenden entweder Glück bringen oder ihn aufhalten. Der Burhan besteht aus Stelen oder Bäumen, wo Besucher Münzen hinschmeißen, so ist es der Brauch. Das machen Russen wie Burjaten. Manche schmeißen aber auch Zigaretten oder Bonbons... die Burhans entstammen einer Mischung aus schamanischen und buddhistischen Einflüssen, unweit von der burjatischen Hauptstadt Ulan-Ude gibt es den Ivolginski Datzan, ein buddhistisches Kloster und Gravitationspunkt des russischen Buddhismus. Zusammen mit der Orthodoxie ergibt das eine sehr eigenwillige mystisch-religiöse Mischung in Burjatien.

Russische Weite ist also auch, wenn viele Menschen ein schamanisch-buddhistisch-othodoxes Religionsgebräu leben, für das es noch nicht einmal einen Namen gibt, zumindest keinen mir bekannten.

Dann will ich zurück nach Ulan-Ude, weg von der Heiligen Nase, und klar, umsteigen muss sein. Stellenweise hört die Straße auf und ist dann ein einziges Schlagloch. Plötzlich lenkt Dima den Bulli wieder über eine deutsche Bundesstraße. Vor zehn Jahren gab es überhaupt keine Straße hierher, in Siedlungen, die hinter Bergen liegen, die keine Namen tragen.

Dann gabeln wir Anhalter auf, weil man das hier so macht, weil niemand in der Unendlichkeit des Waldes zurückgelassen wird.

Wassilij will gerne nach Europa,

Später im Ort Goryachinsk treffe ich die Anhalter wieder, diesmal haben sie ein eigenes Auto. Sie sind gerade volljährig, ihr rostiger Moskwitsch ist ebenso alt. Es fährt Wassilij, der demnächst Medizin studieren will, der Death Metal hört und einen finsteren Wald auf seinem linken Unterarm tätowiert hat. Wir fahren an vielen Schildern vorbei, die für einen sauberen Baikal werben. Ein Kind schaut mit Glubschaufen vom Plakat, hat irgendein Plastikzeug in der Hand, dazu der Spruch: Ihre Kinder schauen auf sie!

Wir fahren und fahren und wollen einfach nur ordnungsgemäß Müll wegschmeißen. Geht aber nicht, weil kein Mülleimer da ist. Bei näherer Betrachtung fallen auch Bierdosen im Gestrüpp auf und Plastiktüten am Straßenrand. Aber insgesamt ist der Wald einfach zu groß... russische Weite ist auch, wenn die Natur im Angesicht der Unendlichkeit kleine Schweinereien verzeiht.

Wir finden dann einen Mülleimer, unweit eines Burhans, fast direkt am Baikal.

Wassilij will gerne nach Europa, aber alleine Moskau ist so weit weg, dass er „nur mal ganz früher“ dort war.

Russische Weite ist, wenn die mongolische Hauptstadt Ulaanbaatar erreichbar ist, aber die eigene nicht.

Wassilij ist gerade mit der Schule fertig, er arbeitet in einem Leichenschauhaus, als ungelernte Kraft, bis er sein Medizinstudium beginnt. Sein staatlicher Lohn: 90 Euro. Für eine Vollzeitstelle. Da einige Dienstleistungen kostenpflichtig sind, kommt er auf etwa 220 Euro im Monat. „Wenn es keine Verwandten gibt, wird es manchmal... schwierig“, sagt Wassilij. „Wir haben einen Typen, der liegt da seit drei Jahren, schlecht gekühlt, der verwest so vor sich hin.“

Das erzählt Wassilij also, zeigt auch Fotos, mir wird etwas übel im Angesicht aufgeschlagener Köpfe von denen Hautfetzen hängen, und aus dem Autofenster sind dramatische Hügel hinter spiegelglattem Wasser zu sehen, ein Paradies.

Russische Weite ist auch der Kontrast zwischen der Schönheit der Natur und dem beschwerlichen Leben der Menschen in ihr.

Alle Artikel unserer Serie "Quer durch Russland" lesen Sie hier:

Teil 0 – vor der Abreise

Teil 1 – Die Krim, das neue Staatsgebiet

Teil 2 – Der melancholische Verteidigungsminister der Hooligans

Teil 3 – Alle Wege führen nach Moskau

Teil 4 – In Kasan ist es wie in der Schweiz

Teil 5 – Seit einig und streitet euch!

Teil 6 – Stalin ist wieder da

Teil 7 – Ein Zwischenfazit, verflucht nochmal

Teil 8 – Der lange Marsch zum russischen Stonehenge

Teil 9 – Treffen sich ein Panzer, ein Meteorit und Chuck Norris in Tscheljabinsk...

Teil 10 - An diesem Tag ist jedes Jahr WM-Sieg

Teil 11 - Russlands grüner Exodus

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