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Auf und ab seit Jahrzehnten. Sicherheitstechnisch mag der Paternoster mittlerweile überholt sein, aber er funktioniert seit seiner Einführung im Jahr 1876 höchst effektiv und hat viele Liebhaber.

© Martina Hengesbach/JOKER

Regulierungsirrsinn in Deutschland: Lob des Paternosters

Alles soll geregelt werden in Deutschland, auch das Fahren mit dem Paternoster? Im Streit zeigt sich die Zuneigung zum Gestern. Vor allem Fahrstuhl-Hasser schalten sich in die Debatte ein.

Doktor Murke brauchte diese Angst, wie andere ihren Kaffee, ihren Haferbrei oder ihren Fruchtsaft brauchen. Das schrieb jedenfalls Heinrich Böll über seinen fiktiven Hörfunkredakteur – aber die Freude an der Angst beim Paternosterfahren dürfte sehr viel weiter verbreitet sein. Zum richtigen Zeitpunkt aufspringen, locker wieder draußen landen, und, natürlich, es Doktor Murke nachtun, der jeden Morgen über den fünften Stock hinaus ins Nichts fuhr, dorthin, wo sich die Kabine knirschend in den Leerraum heben würde, „wo geölte Ketten, mit Fett beschmierte Stangen, ächzendes Eisenwerk die Kabine aus der Aufwärts- in die Abwärtsrichtung schoben …“.

Die Weiterfahrt oben- oder untenherum ist ungefährlich, das steht in jeder einzelnen Kabine. Aber würde man nicht doch einmal andersherum auftauchen, auf dem Kopf stehend oder zu einem verwirrten Häuflein auf dem Boden zusammengeklappt? Das ist, so weit wir wissen, nie passiert in der Geschichte dieses eigenartigen Personenaufzugs. Aber anderes ist passiert, es gab Knochenbrüche und Bänderrisse, Handwerker versuchten, mit Leiter und Sackkarre einzusteigen und verklemmten damit die gesamte Anlage. In Oberhausen soll 2009 ein verwirrter Junge in den Schacht gefallen sein; sogar Todesfälle sind vorgekommen. Deshalb folgt nun das Ende in Gestalt einer Verordnung des Bundesarbeitsministeriums, die vorschreibt, dass ab 1. Juni „Personenumlaufaufzüge nur von durch den Arbeitgeber eingewiesenen Beschäftigten verwendet werden“.

Alle 250 Jahre verletzt sich ein Mensch pro Paternoster

Eingewiesen – das mag für Verwaltungsobersekretäre und deren Vorgesetzte gelten, für den landläufigen Benutzer sicher nicht. Kann der Betrieb aber nicht garantieren, dass nur Eingewiesene mitfahren, muss er die ganze Anlage abstellen. So sehen es derzeit die Verantwortlichen. Sie sagen das jedenfalls – und hoffen auf ein Mini-Wunder wie damals, 1994, als der Paragraf 26 der Aufzugsverordnung zuschnappen sollte, der die Stilllegung aller Paternoster-Anlagen bis zum Jahresende vorschrieb. In letzter Minute legte die Bundesregierung zehn Jahre drauf, und 2004 strich der Bundesrat die geplante Änderung sogar ganz. Nun aber setzte sich die Auffassung wieder durch, dass der Paternoster eine gefährliche Angelegenheit sei, die man keineswegs ungesichert auf die Menschheit loslassen dürfe.

Die Debatte krankt allerdings daran, dass es keine aktuelle Statistik über Paternoster-Unfälle gibt. Von 1977 bis 1986 passierten in den damals noch 500 deutschen Anlagen 23 Unfälle mit Verletzten, drei Menschen starben – alle 250 Jahre verletzte sich demnach ein Mensch pro Paternoster, rechnete der „Spiegel“ nach. Heute gibt es in Deutschland nur noch etwa 250 Anlagen, ein Klacks im Vergleich zu etwa 350000 Fahrstühlen. Von „Normsucht“ und „Sicherheitsfanatismus“ sprechen deshalb die Gegner, wie sie es schon 1993 taten – aber organisiert. Die Münchner Stadtbaurätin Christiane Thalgott gründete damals den „Verein zur Rettung der letzten Personenumlaufaufzugsanlagen“, der die Vertagung um zehn Jahre als seinen Erfolg wertete; von einer Neugründung aus gegebenem Anlass ist nichts zu hören.

Woher die Zuneigung zu einer historischen Technik? Das Paternoster-Prinzip mag sicherheitstechnisch überholt sein, aber es ist noch immer höchst effektiv, wenn es darum geht, Menschen nur ein paar Stockwerke nach oben und unten zu transportieren – ein Fahrstuhl mit gleicher Kapazität ist um ein Vielfaches aufwendiger.

Woher der Name Paternoster kommt

Der erste Paternoster der Welt wurde 1876 im Londoner Zentralpostamt zur Paketbeförderung eröffnet, ab 1883 durften auch Menschen mitfahren. In Deutschland feierte das Prinzip 1885 in einem Hamburger Kontorhaus Premiere – das kaiserliche Patent wurde ein Jahr später besiegelt. Aus dieser Zeit stammte auch der seltsame Name, denn der Aufzug mit den Kabinen an der Kette erinnerte katholische Benutzer an den Rosenkranz, den sie durch die Finger gleiten ließen, während sie das Vaterunser beteten.

Für den Paternoster setzen sich heute vor allem Fahrstuhl-Hasser ein. Sie fühlen sich von der sichereren Technik eingesperrt, sie hassen die enge Zwangsgemeinschaft mit Kollegen und Fremden, das krampfhafte An-die-Decke-Starren. Die Paternoster-Kabine dagegen nutzt man solo oder lädt gezielt Mitfahrer ein. Niemand springt in letzter Sekunde rein und verhakt sich in der Tür, und umgekehrt schnappt keine Tür nach Hosenbein und Rockzipfel. Und schließlich: Das absurde Warten auf mehrere gleichzeitig abwesende und unsichtbare Fahrstühle entfällt. So betrachtet, ist der Paternoster ein Sinnbild persönlicher Reisefreiheit auf kleinstem Raum, eine Technik, die dringend erfunden werden müsste, gäbe es sie nicht längst.

Schließlich ist da die symbolische Ebene. Günter Grass lässt in seinem Buch „Ein weites Feld“ den Büroboten Fonty mit dem Paternoster des Treuhandgebäudes auf und ab fahren. Dieser durchlebt dabei die Geschichte des Hauses, beobachtet historische Personen und nimmt das Auf und Ab der Kabinen als Sinnbild für den Wandel der Zeiten: „Er begriff die Mechanik der Wende in Gestalt eines rastlos dienstwilligen Personenaufzugs. Soviel Größe. Soviel Abstieg. Soviel Ende und Anfang.“

Und so viel Unsinn: In Hamburg sollen einst nach einer feuchtfröhlichen Bürofeier in der Wirtschaftsverwaltung 14 Staatsdiener in einer einzigen Paternoster-Kabine gefahren sein. Dieser Rekord wurde, wie es nun scheint, glatt für die Ewigkeit aufgestellt.

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