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Klassenkampf. Arme Italienerinnen arbeiteten früher für einen Hungerlohn in den Reisfeldern. Darüber gibt es einen legendären Film des italienischen Neorealismus, „Bitterer Reis“, von Giuseppe De Santis, mit Silvana Mangano (3. von rechts) in der Hauptrolle. Der sozialkritische Film von 1949 war wegen seiner unterschwelligen Erotik ein Skandal.

© picture alliance / dpa

Reisanbau in Italien: Risotto tradizionale

Gourmets kommen wegen der Weingüter oder Olivenhaine. Die wenigsten wissen: Italien ist das größte Reisanbaugebiet Europas.

Giuseppe Rubinelli lächelt und seufzt. „Ach ja, die Frösche.“ Dann verzieht er sein Gesicht. Aber wahrscheinlich nur, weil die Sonne ihn blendet. Und dann erzählt er, wie sie als Kinder Frösche gefangen haben, auf den grasigen Dämmen und in den Kanälen, nachts im Licht der Karbid-Lampen, untertags mit einer primitiven Angel: „Die Frösche sind ja so blöd. Die schnappen nach allem, was vor ihnen herumzappelt.“

Er erzählt, wie sie die Hüpfer gegessen haben, ganz, beileibe nicht nur die Schenkel. Gefüllt, frittiert, im Risotto. „Für uns auf dem Land, Geld hatten wir ja keins, waren diese Tiere eine der wenigen Eiweißquellen“, sagt Rubinelli. Der pensionierte Chemieingenieur und Weinbauer, der heute als Tester und Berater für gutes Essen unterwegs ist, steht auf einem Bauernhof in der Nähe des piemontesischen Novara. Fast sieht diese „Cascina Barciocchina“ aus wie eine Hallig im Wattenmeer, nur dass das flache Meer hier in viele, viele Becken aufgeteilt ist. Flache Erddämme winden sich durch die schier endlose Wasserfläche. Glänzend blau spiegelt sich in ihr der Himmel, und da im Nordwesten, über dem Horizont, was im Dunst so aussieht wie eine flache weiße Wolke, das ist schon der Gletscher des Monte Rosa.

Eigentlich, sagt Rubinelli, müsste es jetzt an allen Ecken und Enden quaken. Aber es quakt nichts. Es ist überhaupt ganz ruhig. Die schmalen Hauptdämme sind für Autos gesperrt, nur Radfahrer rauschen hier durch. Graue und weiße Reiher staksen still durchs Wasser, Schwärme von Kiebitzen fliegen mit leisem Windhauch auf, und die bunten Enten, die in zahlreichen Arten herumschwimmen, sind so sehr ins Fressen vertieft, dass sie das Schnattern vergessen. „Keine Angst, Giuseppe, die Frösche kommen schon wieder. Sie haben sich nur unserem Ackerrhythmus angepasst.“ Emilio Simonelli ist der Bauer auf der Hallig Barciocchina – einer jener 700 in der Provinz Novara und landesweit einer jener 4770, die Italien zum größten Reisproduzenten Europas machen. Auf 250 000 Hektar Fläche ernten sie jedes Jahr 1,6 Millionen Tonnen.

Simonelli kommt auf einem eigenartigen Traktor angefahren. Anstatt breiter Gummireifen hat er Stahlscheiben, die mit ihren Zacken außen an eine Kreissäge erinnern. In den letzten Wochen hat Simonelli seine 65 Hektar für die Aussaat vorbereitet. Er hat Dämme aufgehäufelt und die Ackerfläche dazwischen – mit Laser-Vermessungstechnik – so eingeebnet, dass von einem Feldrand zum anderen höchstens drei Zentimeter Höhenunterschied übrig geblieben sind. „Nur so kriege ich überall eine gleichmäßig dicke Wasserschicht“, sagt Simonelli. Dann hat er die Äcker geflutet und in einem mächtigen, tropfenden Anhänger auf seinem Hof schon mal das Saatgut eingeweicht. „Die Körner müssen sich vollsaugen und schwer werden“, sagt Simonelli. „Sie sollen ja im Boden anwurzeln und nicht auf der Wasseroberfläche schwimmen.“ Aber wozu die Überschwemmung? „Weil der Reis zum Keimen eine gleichmäßige Temperatur braucht. Das schafft er unter einer isolierenden Wasserdecke viel besser als auf trockenem Boden mit den Wärmeunterschieden zwischen Tag und Nacht.“

Zum Säen hat Simonelli nicht nur die breiten Gummireifen vom Traktor genommen – „die ruinieren den nassen Boden“ – sondern sich ein GPS-Gerät neben das Lenkrad montiert. „Weißt du, wie schwer es ist, auf einer Wasserfläche gerade Linien zu fahren? Früher brauchten wir dazu drei Leute, zwei mit Positionsfähnchen auf den Dämmen, einer auf dem Traktor. Mit der Satellitenortung kriege ich das auch alleine perfekt hin.“

Früher – heute. Im Mittelalter, sei es über die Kreuzfahrer, sei es über die arabischen Herren Siziliens, ist das fernöstliche Getreide nach Italien gelangt. In der piemontesisch-lombardischen Ebene zwischen Lago Maggiore und Po hat es seine Heimat gefunden: Wasser liefern die Alpen genug, und die Gegend ist von einem dichten Geflecht an Kanälen durchzogen. Doch in den letzten fünfzig Jahren hat sich im Anbau mehr verändert als die sieben Jahrhunderte zuvor.

Früher. Das war die Welt, wie sie 1949 der berühmte Kinofilm „Bitterer Reis“ zeigte. Eine betörende Silvana Mangano trat darin als „mondina“ auf – als eine von jenen mehr als 260 000 Norditalienerinnen aus den untersten sozialen Schichten, die jedes Jahr aus Mangel an anderer Arbeit in die Reisplantagen zogen. Das bedeutete vier Monate Bücken, Hacken, Jäten im tropisch-feuchten Klima der Po-Ebene, bis zu den Knien im Wasser, geplagt von Myriaden von Stechmücken. Jahrzehnte kämpften die Frauen, um wenigstens einen Achtstundentag zu erreichen – die mit klassenkämpferischem Aplomb geführte Schlacht, gewonnen 1906, gilt als erste große soziale Auseinandersetzung im geeinten Italien.

Heute. Die „Cascine“, diese riesigen Höfe, die oft kleine Dörfer waren mit Kirche und Schule, stehen leer. Saisonarbeiter braucht es nicht mehr. Wo einst 40, 50 Familien dauerhaft lebten, wohnt nur mehr eine einzige. Ein Hektar Reis, so rechnet die zuständige nationale Behörde Enterisi vor, verlangte 1939 noch 1028 Stunden Arbeit – heute reichen 50. Die Menschen in dieser reizvollen Gegend halten sich von Juni an bevorzugt in Käfigen auf. Auf der Terrasse der Cascina Barciocchina zum Beispiel. Sie ist rundherum mit Fliegengitter abgedichtet. Die Mücken haben alle Veränderungen im Reisanbau überlebt, sie sind – wie Gastronomie-Experte Rubinelli versichert – „die größten und gemeinsten Mücken der Welt geworden. Diese Schwärme da an Sommerabenden, gegen die kannst du nichts machen. Die kannst du nur erleiden.“

Hinter den Gittern der kühlen Terrasse nimmt auch Claudio Salsa einen Aperitiv. Salsa ist der Schwager von Bauer Simonelli und Referent im Bauernverband Coldiretti von Novara. Er erzählt von Hubschraubern und Drachenfliegern, von denen aus man versucht – um den schlammigen Ackerboden zu schonen – die Mücken zu bekämpfen: mit Insektiziden, Bakterien, neuerdings mit den gefräßigen Larven von Libellen: „Die vermehren sich tatsächlich gut.“ Und die Frösche? „Die kommen hier später als anderswo. Die haben mitgekriegt, dass wir heute nach dem ersten Keimen der Saat die Felder noch mal kurz trocknen, damit die Wurzeln kräftiger werden. Jetzt warten die Kaulquappen mit dem Schlüpfen auf die zweite, endgültige Flutung.“ Das Problem ist nur, dass sich über das wohltemperierte Wasser der Reisfelder auch noch andere Organismen freuen: Unkraut, Pilze, Käfer, Viren, die um den Preis der Ernte bekämpft werden müssen. Biologisch angebauten Reis gibt’s dann wohl nicht? Simonelli schnauft hörbar durch die Nase, Salsa schüttelt in schweren Bewegungen den Kopf: „Theoretisch schon, aber praktisch … Umweltverträglich machen wir’s inzwischen. Aber auf Chemie verzichten?“

Der Weg von Barciocchina zur Cascina von Fabrizio Rizzotti führt an Reisfeldern vorbei, die als erste eingesät worden sind. Hier breitet sich bereits das satte Gelbgrün des frisch gekeimten Getreides wie ein Flaum über dem metallischblauen Wasserspiegel aus, und nicht einmal der Dauerdunst über der Tiefebene kann das Farbenspiel schwächen, das da in der sinkenden Nachmittagssonne aufleuchtet.

Der junge, energische Rizzotti ist einer von nur drei Bauern im Landkreis Novara, die ihren Reis – jedes Jahr gegen Ende September – nicht nur ernten, sondern auch selbst verarbeiten: die kleinen, runden Körner der Sorten Balilla oder Selenio zum Beispiel für Suppen, Süßspeisen oder Sushi, die basmati-ähnlichen Langkörner indischen Typs oder die großen Risotto-Sorten vom Vialone Nano über den Arborio bis hinauf zum Carnaroli – oder hinüber zum „Riso Venere“, der auch beim Kochen glänzend tiefschwarz bleibt, und den sie in Novara gezüchtet haben.

In Rizzottis Hof mischt sich der geradezu aufregende Duft frisch gemahlener Getreidekörner mit dem infernalischen Lärm einer Maschinerie, die dem rohen Korn in mehreren Arbeitsgängen eine harte Außenhaut nach der anderen abzieht, zerbrochene Körner entfernt und hinter einem optischen Sensor jedes Korn einzeln ausspuckt, das nicht so makellos rein glänzt, wie der Kunde das gerne hat.

Fabrizio Rizzotti will seine Ernte nicht, wie fast alle seine Kollegen, an jene drei italienischen Großfirmen verkaufen, die drei Viertel von Markt und Export beherrschen. Mit der Konkurrenz kann er leben: „Der Witz ist ja, dass bei Gewinnen von 200 oder 300 Prozent, die in den Konzernen und in der Handelskette hängen bleiben, ich als Einzelner in der Direktvermarktung sogar billiger bin als die Großen.“ Und dann regt Rizzotti sich auf über einen legalisierten Etikettenschwindel: Wo „Arborio“ oder „Carnaroli“ draufsteht, wo Packungen also Spitzensorten anpreisen, muss nicht unbedingt Arborio oder Carnaroli drin sein. Laut Gesetz darf es – nur nicht gemischt – auch billigerer Reis sein, wenn er die gleiche Korngröße hat. Das, so heißt es beim Bauernverband, „macht unser Qualitäts-Marketing sinnlos“. Und das wollen Kleinproduzenten wie Rizzotti vermeiden. Die Frage ist nur: Wenn Rizzotti nicht in die Handelsketten kommt, „und wenn ich als Einzelkämpfer nicht 300 Messen pro Jahr besuchen kann“ – wer kommt zu Rizzotti auf den abgelegenen Hof? Deutsche Gourmets gibt’s, die fahren hunderte von Kilometern, nur um zum Wein- oder zum Olivenbauern ihres Vertrauens zu gelangen. Aber wer tut das für Reis? Vielleicht, sagt Claudio Salsa vom Bauernverband, muss man Touristen am nahen Lago Maggiore werben. Schulklassen einladen. Barolo-Fans auf der Fahrt nach Alba umleiten. Aber nicht im Sommer. Dann kommen die Mücken.

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