zum Hauptinhalt
Die Schiffsbegrüßungsanlage Willkomm-Höft kurz vor Hamburg gibt es seit 1952. Sie ist sogar auf den Seekarten verzeichnet.

© Hauke Gilbert

Schifffahrt: Boot zum Gruße!

Ihre Sehnsucht ist die Ferne, ihr zweiter Beruf ist Kapitän. In Wedel an der Elbe heißen ein paar Männer seit Jahren die großen Schiffe aus aller Welt willkommen. Durchschnittlich alle 26,5 Minuten eines. Mit Hymne und „Fliegendem Holländer“.

Die große, weite Welt ist rechteckig. Eingefasst von einem Fensterrahmen liegt sie da, hinter Glas und schweigend wie ein Stillleben. Sie ist noch farblos an diesem Tag, als sei ihrem Maler aufgetragen worden, so viel Grau wie möglich zu verwenden. Unten Grau, oben Grau, ein Fluss und ein Himmel, zwei großflächig und auf ganzer Breite aufgetragene Streifen Fadheit. Ein Schraubstock aus Blei. Dazwischen etwas Blassgrün, bei dem es sich um eine unbewohnte Insel mit dem Namen Hanskalbsand handelt. Die große, weite Welt? Gewiss.

Denn durchschnittlich alle 26,5 Minuten betritt Surabaya-Johnny dieses Bild, mal von links, mal von rechts. Junge, komm bald wieder, Rolling Home, über Rio und Schanghai, über Bali und Hawaii, wir lagen vor Madagaskar, einmal noch nach Bombay. Regelmäßig kommt die Ferne hier vorbei, in ihrer besten Hans-Albers-Haftigkeit. In Form von Schiffen. Sie sind auf dem Weg in den Hamburger Hafen oder haben ihn gerade verlassen.

Das ist die Welt von Eckart Bolte an diesem Tag. Von zehn Uhr vormittags bis abends um acht blickt er durch das Fensterrechteck hinaus auf die Elbe und die Wolken und verrichtet dabei seinen Dienst. Er begrüßt Schiffe. Eckart Bolte ist Begrüßungskapitän in der Schiffsbegrüßungsanlage Willkomm-Höft, Wedel.

Seit 2001 geht er dieser Arbeit nach. Er tut dies zwar nicht von Berufs wegen, aber immerhin im Nebenerwerb. Die Schiffsbegrüßungsanlage selbst gibt es seit 1952. Abgesehen von Rendsburg am Nord-Ostsee-Kanal, wo die Leute im Jahr 1997 auf die Idee kamen, auch so etwas haben zu wollen, ist sie womöglich die einzige ihrer Art auf der Welt.

Es spricht jedenfalls viel dafür. Bolte, am Fenster stehend, sagt: „Wer weiß das schon genau?“ Die Meere sind groß, die Häfen zahlreich, und was überall dort passiert, ist nicht immer lückenlos dokumentiert. Bolte sagt: „Wir jedenfalls stehen in den Seekarten drin.“

Draußen fließt der Fluss. Er fließt von links nach rechts. Links, elbaufwärts also, 20 Kilometer entfernt und deshalb längst nicht mehr im Bild, befinden sich die Landungsbrücken von Hamburg-St. Pauli. 75 Kilometer weiter rechts mündet die Elbe in die Nordsee. Alles, was vom Meer kommend in den Hafen will und von dort aus wieder hinaus, muss an Boltes Fenster vorbei.

Ein Schiff wird kommen, und jetzt, wo die durchschnittlichen 26,5 Minuten wieder einmal vergangen sind, ist es tatsächlich da. Und schräg dahinter gleich noch eins. Von rechts kommend schieben sich zwei Schiffsbuge, ein obstbaum- und ein haushoher, vor das unbewohnte Hanskalbsand. Seefahrerinbrunst schwappt herein in Boltes Arbeitszimmer, Gedanken an die Ferne treiben darin und Bilder von fremden Küsten und von den Ozeanen und Erinnerungen an die alten Lieder, es geht gar nicht anders. Die ganze, längst vergangene Shanty-Seligkeit eines Landes, das immerhin an zwei Meeren liegt, ist jetzt in diesem Raum. Die Schiffe kommen ja immer noch aus Rio und Schanghai. Nur sind die Umstände, unter denen sie das tun, im Lauf der Zeit etwas nüchterner geworden.

Zahnarztschiffe wurden sie genannt.

Sehr gut sichtbar wird das jetzt. Draußen vorm Fenster ist die kleine „Süllberg“, ein Tanker, gerade dabei, das große Containerschiff zu überholen, die „Hannover Bridge“. Die schnelle „Süllberg“ gehört einer Hamburger Reederei und fährt unter der Flagge Gibraltars, dem britischen Überseeterritorium zwischen Mittelmeer und Atlantik. Das langsame Containerschiff gehört einer japanischen Reederei, wird von einer deutschen Firma verwaltet, registriert wiederum ist es in Panama.

Bolte beginnt mit der Begrüßungszeremonie. Er startet eine Computer-Datei. Draußen, an zwei Masten am Flussufer, sind Lautsprecher befestigt. Aus denen dröhnen nun ein paar Takte aus Richard Wagners „Fliegendem Holländer“: „Steuermann, laaaass die Wacht! Steuermann, heeeer zu uns!“, gefolgt von Hamburgs Hymne. „Stadt Hamburg an der Elbe Auen, wie bist du stattlich anzuschauen! Mit deinen Türmen hoch und hehr, hebst du dich schön und lieblich sehr.“ Eine erst wuchtige, dann getragene Breitseite, wenn man so will, quer über den Fluss gegen die Schiffswand der „Süllberg“ gedonnert. Es folgt die Ansprache: „Willkommen in Hamburg! Wir freuen uns, Sie im Hamburger Hafen begrüßen zu können. Willkommen in Hamburg!“ Und dann bekommt das deutsche Schiff seiner Gibraltar-Flagge wegen die britische Nationalhymne vorgespielt.

Kurz darauf passiert bei der „Hannover Bridge“ dasselbe, mit einem Unterschied. Bolte begrüßt das Schiff – in Japan gebaut, einer japanischen Reederei gehörend, Stellplätze für 9000 Container, aktueller Tiefgang 12 Meter 90 – nicht mit Panamas, sondern mit der japanischen Hymne. Er setzt sich damit über die Wedeler Schiffsbegrüßungsregeln hinweg. Er sagt: „Ausnahmsweise. Es gibt ja nur noch ganz wenige Schiffe, die unter japanischer Flagge fahren. Sonst hört man die japanische Hymne ja gar nicht mehr.“ Das kleine Panama dagegen, von ebenso vielen Menschen bewohnt wie die Stadt Berlin und flächenmäßig ebenbürtig mit Bayern, hat derzeit die größte Handelsflotte der Welt. Beliebt bei Reedern sind auch Liberia, die Kaimaninseln, Zypern und die küstenlosen Staaten Bolivien und Mongolei.

All das schiebt sich mit ins Bild. Die Steueroasenproblematik, und auch die weltweite Geldanlageverzweiflung, der beargwöhnte deutsche Exportüberschuss und das Lohndumping. Manchmal auch die internationale Großkriminalität.

Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre setzte das massenhafte Umregistrieren von Schiffen ein, der Fachbegriff dafür ist „Ausflaggen“. Steuer- und Gebührenoptimierungsgründe sind dafür ausschlaggebend.

Zur gleichen Zeit und aus denselben Gründen begannen deutsche Dentisten, ihr Geld in Schiffe zu investieren. Zahnarztschiffe wurden sie genannt und massenhaft gebaut. Der Boom dauerte ein paar Jahre, bis es irgendwann mehr Schiffe gab als gebraucht wurden. Die schönen Geldanlagen wurden wertlos. Im Moment passiert wieder dasselbe, nur diesmal berufsübergreifend und über Kontinente hinweg. Eine Globalspekulation ist im Gange, Fonds ordern manchmal zehn Schiffe auf einmal, mit der längst eingetretenen Folge, dass es zu viele von ihnen gibt auf der Welt.

Herkunftsland und Flaggenstaat der Schiffe wiederum sagen nichts über deren Besatzung aus. International und flottenübergreifend kommt zum Beispiel die Kombination aus Philippinos für die unteren Mannschaftsränge und Russen als Führungspersonal häufig vor. „Die emotionale Bindung der Leute schwindet“, sagt Bolte, „zum Schiff, zum Eigner, zur Flagge“. So kommt es auch, dass er seine Hymnen regelmäßig ins Leere sendet. Die allermeisten Schiffe fahren vorbei, ohne seinen Gruß zu erwidern. An diesem Tag wird allein der Zweimastgaffelschoner „Undine“ zurückgrüßen, „der einzige noch frachttragende Segler Deutschlands“, sagt Bolte, „und wie ich hörte, wohl sogar Europas“. Die „Undine“ dient als Besserungsanstalt für Problemjugendliche.

„So, meine Damen und Herren, die ,Nagoya Express’"

Bolte nimmt ein Mikrofon zur Hand. „Ja, meine Damen und Herren“, sagt er, „normalerweise begrüßen wir keine Schiffe, die so klein sind. Aber hier machen wir eine Ausnahme. Und wie Sie vielleicht gesehen haben, hat die ,Undine' geantwortet, und zwar wie es sich gehört durch Dippen der Flagge. Das wird so selten gemacht, dass wir es hier im Brückentagebuch vermerken.“

Dippen ist das kurze Flaggeneinholen und -wiederaufziehen, ein überlieferter Brauch mit der Aussage, dass man in friedlicher Absicht komme. Und die Damen und Herren sind die Gäste des Ausflugslokals Schulauer Fährhaus, in das die Schiffsbegrüßungsanlage hineingebaut ist. Vier, fünf Dutzend Menschen an gedeckten Tischen, die Köpfe zur Elbe gedreht und über Lautsprecher genauso mit Bolte verbunden wie die Schiffe.

Viele von ihnen sind – es ist ein Tag mitten in der Woche – etwas älter, viele sind ausgestattet mit der für Hamburger typischen Gediegenheit. Ist ein Schiff begrüßt, erzählt Bolte den Besuchern noch einige der technischen Daten. Länge, Breite, Tiefgang, die Motorleistung und die Höchstgeschwindigkeit. Alles vermerkt auf 17 000 Karteikarten, die unterm Fenster in einem großen Zettelkasten liegen. Bei einlaufenden Schiffen nennt Bolte den Hafen, von dem aus sie in See gestochen sind, bei auslaufenden das Ziel.

Deine Liebe ist ein Schiff

Deine Sehnsucht ist die Ferne

Und nur ihnen bist du treu

Ein Leben lang.

Bolte ist gerade 65 geworden und damit im Pensionärsalter angekommen. Er ist der dienstälteste Begrüßungskapitän von Wedel. 35 Jahre lang hat er eine Zinngießerei betrieben und dort seinen Traumberuf ausgeübt. Er hat Schiffsmodelle gegossen, die er dann an Sammler und Reedereien verkauft hat. Bolte ist deshalb – neben einem ehemaligen Hafenspediteur – derjenige unter den insgesamt sechs Begrüßungskapitänen, der am meisten mit der Seefahrt in seinem Leben zu tun hatte. Ferner arbeiten in der Schiffsbegrüßungsanlage: ein einstiger Gymnasiallehrer, ein Ex-Post- und zwei ehemalige Verwaltungsbeamte. Graues Haar haben sie alle, graue Bärte drei von ihnen. Bolte zum Beispiel. Wenn sie morgens zum Begrüßungsdienst antreten, tragen sie eine frischgebügelte Kapitänsuniform.

Am Abend zuvor hatten sie hier zusammengesessen, um den Dienstplan zu besprechen. „Ich hab’ noch gar keinen Schichtplan für Mai.“ – „Was hast du jetzt gesagt, am 2. Mai hab’ ich Dienst?“ – „Ja, genau, und am 3. hat Eckart.“ – „Ich bin da gerade wieder aus dem Urlaub da, da hab’ ich Jetlag.“

Sie haben sich über ihre alten Berufe lustig gemacht, „wir vertreten hier eigentlich alle Berufsgruppen, ha, aber ein gewisses Übergewicht hat der öffentliche Dienst“. Und sie haben resümiert, warum sie gleich noch einmal Begrüßungskapitäne geworden sind.

Aus Spaß vor allem. Unter Leuten sein, nicht einrosten. Aus Freude an der Verantwortung auch. Sie sind von der Polizei gebeten worden, immer mal ein Auge auf Hanskalbsand gegenüber zu werfen. Ob dort Leute herumlaufen oder Zelte stehen. Denn wenn dort Leute herumliefen oder Zelte stünden, dann einigermaßen zuverlässig im Zusammenhang mit Rauschgiftgeschäften. Die Schiffe brächten das Rauschgift her, und manchmal fliege dann eben ein Bündel ans Inselufer.

Und dann erzählte Wolfgang Adler, der Hafenspediteur, von seiner Nachbarin, die manchmal draußen am Elbufer sitze und der Arbeit der Begrüßungskapitäne zuhöre. Wenn ich mir vorstelle, habe die alte Frau gesagt, was in der Welt um uns herum so alles vorgeht, Krieg, Feindschaft, Wahnsinn. Also wenn ich mir das alles vorstelle, oder besser nicht vorstelle, und ich erlebe das hier, diese ganze Freundlichkeit, dann denke ich: Wenn es überall so wäre, dann wäre Frieden.

Boltes Arbeitstag als diensthabender Friedensstifter geht dem Ende entgegen. Ein paar Mal noch geht er nach draußen und winkt, mit langsamen, ausholenden Bewegungen. Er hisst und senkt Flaggen, und er nimmt das Mikrofon in die Hand. „Ja, meine Damen und Herren, mit der Nationalhymne von Liberia haben wir soeben…“

„So, meine Damen und Herren, die ,Nagoya Express’ kommt immer näher…“

„Meine Damen und Herren, wir hören jetzt die Nationalhymne von Antigua und Barbuda…“

Dann, irgendwann am Abend, kommt die Helgoland-Fähre. Die Insel Helgoland, nahe bei der Elbmündung gelegen, hat einst ja zu Großbritannien gehört. Heute gehört sie zum Kreis Pinneberg. Manchmal, im Laufe der Zeit und in Einzelfällen, werden die Verhältnisse auf See auch wieder übersichtlicher.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false