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Panorama: Schöner warten

Bremer Studenten haben herausgefunden, wie wir kürzer, ordentlicher und glücklicher anstehen

An einer englischen Uni wären die Studenten aus Bremen mit ihrer Forschungsarbeit vermutlich durchgefallen: „Intelligent Queueing: Analyse und Gestaltung menschlicher Warteschlangen“ heißt der 300 Seiten dicke Bericht, in dem zehn angehende Wirtschaftsingenieure und zwei Psychologiestudentinnen menschliche Warteschlangen untersuchen und Vorschläge zu deren Optimierung machen. Nonsense, würde es im Königreich dazu heißen; anstehen ist immer intelligent. Der Legende nach bilden selbst einzelne Inselbewohner, sobald sie irgendwo stehen bleiben, automatisch eine ordentliche Schlange. Wer wartet, befindet sich aus englischer Sicht im zivilisatorischen Optimalzustand.

In der Bremer Universitätsmensa geht es, besonders dienstags und donnerstags, eher suboptimal zu. Die Schlangen der hungrigen Studenten sind lang und chaotisch, das Hühnerfrikassee am Platz oft nur noch lauwarm. Bis jetzt. Christoph Pille, 25, hat sich vorgenommen, dem Durcheinander ein Ende zu bereiten. Fast ein Jahr lang hat der angehende Wirtschaftsingenieur und Projektleiter von „Intelligent Queueing“ (IQ) die Mensaschlangen untersucht. Und damit wissenschaftliches Neuland betreten. Die vorhandene Literatur zu Warteschlangen beschäftigt sich laut Pille fast nur mit „nichtmenschlichen Warteprozessen“, etwa von Produktionsfließbändern. Das Ergebnis, sagt der angehende Diplomand, sei auch außerhalb des Unibetriebs von Belang: „Unser Modell und unsere Lösungsansätze lassen sich auf jede erdenkliche Wartesituation anwenden.“

Die Bremer Mensa befindet sich bereits in Phase vier des „IQ-Vorgehensmodells“: in der Umsetzung. So gibt es die Tabletts seit kurzem nicht mehr schon am Eingang, sondern erst direkt an der Essensausgabe. „Vorher gab es immer einen großen Platzverlust, weil jeder sein leeres Tablett vor dem Bauch hielt“, erklärt Pille. Ein weiterer Vorschlag, den die Mensaleitung dem studentischen Projektleiter zufolge aber noch „durchrechnet“, ist ein „Personenleitsystem“ wie im Reisezentrum der Deutschen Bahn: Hüfthohe Absperrbändchen führen die Wartenden in einer vorgegebenen Zickzackbahn zum Ziel. So weit, so trivial. Die interessantesten Ideen im Maßnahmenkatalog werden angesichts der Finanzsituation deutscher Hochschulen leider wohl nie Wirklichkeit: Web-Cams mit Bildern der Wartesituation, ein Mensa-Radio mit Uni-Nachrichten, angenehme künstliche Gerüche für die gestressten Jungakademiker, elektronische Anzeigetafeln, die an verschiedenen Punkten in der Schlange die verbleibende Wartezeit anzeigen – wer weiß, vielleicht kommt das alles in einer gebührenfinanzierten Zukunft.

Um ihre akademische Zukunft müssen sich Pille und seine Mitstreiter erst mal keine Sorgen machen. Für „Intelligent Queueing“ erteilten ihnen die Professoren eine glatte Eins. Laut Betreuer Prof. Dieter H. Müller vom Bremer Institut für Konstruktionstechnik haben die Studenten „ein industrielles Umfeld nachgestellt“. Interdisziplinär, selbst organisiert, im Team – ganz so, wie es die Chefs von heute immer fordern.

Interessant ist die Frage, was „Intelligent Queueing“ über die Probleme der Bremer Mensa und die Arbeitsmarktchancen der Studenten hinaus über Deutschland aussagt: Was ist das für eine Gesellschaft, die ohne äußere Lenkung, etwa durch Personenleitsysteme, nicht einmal mehr warten kann?

Man könnte einen Engländer fragen. Lieber nicht.

Felix Serrao

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