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© Thilo Rückeis

Schulden: Auf Raten in den Abgrund

Thorsten, 21, war kriminell und konnte mit Geld nicht umgehen. Sein Schuldenstand: 35 000 Euro Am Anfang sagte er: Das wird schon! Wurde es aber nicht – und so schlidderte er immer tiefer hinab

Vor drei Jahren ungefähr, da hatte Thorsten das Gefühl, sein Leben sei gerade ein großer Glücksgriff. Einige Monate später kommt eine Zeit, da hätte er sich am liebsten eine Pistole an den Kopf gesetzt und abgedrückt. Dazwischen liegen Pech, Unvernunft, Ignoranz. Und Schicksal, sagt Thorsten. Thorsten ist 21 und hat 35 000 Euro Schulden. Und keine Chance, das Geld jemals zurückzuzahlen.

Heute sitzt Thorsten in der Wohnung seiner Mutter und seines Stiefvaters in einem Hochhaus in Reinickendorf, 13. Stock. Thorsten sieht nicht so aus, als würde er viel Sonne abbekommen. Er ist blass, die Ringe unter den Augen sind dunkel. Es geht ihm gut.

Thorsten hatte eigentlich gedacht, dass die „hässliche Zeit“ in seinem Leben, wie er sie nennt, mit seinem 14. Geburtstag endet. In Köln-Bergheim, wo er aufwächst, wird er jeden dritten Tag von der Polizei nach Hause gebracht. Die Schwester wächst beim Vater auf, der Bruder bei der Oma, er bei der Mutter. Er fühlt sich hin- und hergeschubst. Mit acht Jahren beginnt Thorstens kriminelle Laufbahn. Er zündet Schrebergärten an, klaut in Supermärkten, stiehlt Fahrräder, reißt alten Frauen die Tasche aus den Händen, wirft Steine auf Züge. Falsche Freunde habe er gehabt. Und keinen eigenen Willen. „Ich hab nicht viel nachgedacht, ich hab einfach mitgemacht.“ Kurz vor seinem 14. Geburtstag, dem Tag, von dem an er unter Jugendstrafrecht angeklagt werden könnte, beschließt er, aufzuhören. Sein polizeiliches Führungszeugnis ist sauber geblieben.

Die Versicherung, bei der mehrere Leute, deren Schrebergärten Thorsten angezündet hat, unter Vertrag stehen, schreibt Briefe und will 40 000 Mark von Thorstens Mutter. Die Mutter zahlt nicht, wie auch? Das Geld reicht gerade so, um die Familie durchzubringen.

Für Thorsten beginnt mit 17 die gute Zeit – er schließt die Schule ab, zwei Tage vor seinem 18. Geburtstag zieht er in eine Wohnung in Neukölln, 50 Quadratmeter für sich allein. Wenige Tage später bekommt er die Zusage für seinen Ausbildungsplatz als Fachverkäufer in einer Bäckerei. Ausbildungslohn, Kindergeld und Berufsausbildungsbeihilfe zusammengerechnet, stehen ihm monatlich um die 750 Euro zur Verfügung. Dazu kommen noch mal zusätzlich 20 bis 30 Euro Trinkgeld pro Tag. Die Versicherung schreibt mittlerweile ihre Briefe an Thorsten, die Forderungen sind auf 24 000 Euro angewachsen. Ein Anwalt, der in der Bäckerei regelmäßig auf Kaffee und Kuchen vorbeikommt, sieht sich die Unterlagen an. Thorsten müsse bezahlen, aber solange er nicht kann, solle er sich keine Sorgen machen.

Thorsten sagt, er mache sich über vieles keine Gedanken. „Wird schon“, sei seine Einstellung. Das kann man pragmatisch finden, vielleicht sorglos. Mit den Forderungen der Versicherung hat Thorstens Weg in die Verschuldung begonnen.

Berlin belegt in der gesamtdeutschen Schuldenstatistik den vorletzten Platz, über 15 Prozent der Bevölkerung sind verschuldet. Würde man Neukölln als eigene Stadt in die Schuldenstatistik aufnehmen, der Bezirk würde den letzten Platz belegen. 21,4 Prozent betrug zuletzt die durchschnittliche Schuldnerquote, in einigen Gebieten sogar fast 40 Prozent. Gerade junge Menschen verschulden sich immer öfter, besonders Jugendliche mit einer schlechten Schul- und Berufsbildung seien gefährdet, sagt Ralf Rosenberg, der beim Neuköllner „Arbeitskreis Neue Armut e. V.“ verschuldete Jugendliche bis 24 Jahre berät – die meisten haben Schulden von mehreren Tausend Euro. Bis Mitte Zwanzig verfügen die meisten nur über ein geringes Einkommen, Wünsche haben sie natürlich trotzdem: Handy, Computer, iPod, alles ist mittlerweile auf Raten erhältlich – und die 30 Euro im Monat wird man ja wohl noch irgendwie abstottern können.

Das dachte Thorsten auch: fester Job, das viele Trinkgeld, was sollte schon schiefgehen?

Er kauft eine Playstation, eine Xbox, eine Playstation Portable, einen PC mit teuerster Ausstattung. Bar kann er das alles nicht bezahlen, also kauft er auf Raten. Eine saubere Schufa-Auskunft, Gehaltsabrechnungen, mehr ist nicht nötig. Thorsten lernt ein Mädchen kennen, er ist schrecklich verliebt, buhlt um sie, schreibt Lieder und Gedichte, ein halbes Jahr lang. Als er sie endlich überzeugt hat, überhäuft er sie mit Geschenken. Kauft ihr eine Winterjacke, Stiefel, Sandalen, er zahlt sogar ihre Besuche im Solarium. Er setzt alles daran, sie glücklich zu machen – und denkt, dass das mit teuren Geschenken funktioniert. Glaubte er, ihre Liebe kaufen zu können? Er zögert. Nein, ganz so sei es nicht gewesen, aber es fühlte sich gut an. Männer kaufen ihren Frauen teure Geschenke, das muss so sein.

Das Mädchen macht sich lustig über Thorstens Wohnungseinrichtung, die damals noch die eines Teenagers ist, die Jugendzimmermöbel aus der elterlichen Wohnung eben. Um ihr eine Freude zu machen, renoviert er heimlich zwei Tage lang seine Wohnung, kauft Gardinen und neue Möbel, verlegt Laminat.

Seine Bank hatte in den Monaten davor seinen Dispo unaufgefordert von 300 erst auf 500, 800 und schließlich auf 1400 Euro erhöht – und als Thorsten fertig ist mit dem Renovieren, steht sein Konto bei minus 1200 Euro. Dann kommt eines zum anderen: Sein Ausbildungsbetrieb geht pleite, er muss in einen anderen Betrieb wechseln. Dort gibt es überhaupt kein Trinkgeld. Den ersten Lohn bekommt er pünktlich überwiesen, es ist der letzte – sein Chef kann angeblich nicht mehr zahlen. Mittlerweile hat Thorsten monatliche Ratenverpflichtungen von mehreren hundert Euro.

Seine Freundin reagiert gereizt, als er sie auffordert, auch mal selber was zu bezahlen. Sie betrügt ihn kurz darauf, er trennt sich von ihr. Zu diesem Zeitpunkt zahlt er seit einigen Wochen seine Miete nicht mehr. Die Hausverwaltung kündigt ihm, er kommt bei einem Freund unter. Thorsten schließt Handyverträge ab, um die Geräte bei Ebay zu verticken, um an etwas Geld zu kommen. Dass die Verträge mit monatlichen Gebühren weiterlaufen, ignoriert er. Es ist nicht so, dass er den Kopf völlig in den Sand steckt. Er schreibt an seine Gläubiger, schildert seine Situation, bittet um Aufschub. Manche stimmen zu, viele auch nicht. Er erhält nun regelmäßig Briefe der Gläubigeranwälte. Die Playstation und andere Geräte hat er längst auf Ebay oder an Freunde verkauft.

Mittlerweile ist der Druck, der sich immer stärker aufbaut, auch körperlich zu spüren, Thorsten bekommt kreisrunden Haarausfall, ist depressiv. Irgendwann hält er es nicht mehr aus, er geht zur Schuldnerberatung.

Dort rät ihm Ralf Rosenberg zu einer Verbraucherinsolvenz. Das heißt, sämtliches Vermögen wird an die Gläubiger verteilt. Thorsten hat aber sowieso nichts mehr. Nach dem Insolvenzverfahren beginnt eine sechsjährige Wohlverhaltenszeit. In dieser Zeit wird ein Teil des Gehalts gepfändet. Thorsten verdient aber knapp unter der Pfändungsgrenze. Läuft alles nach Plan, dann ist Thorsten also in einigen Jahren schuldenfrei, ohne etwas zurückgezahlt zu haben. „Ich kann mich nicht beklagen“, sagt er. Kontrolle sei in seinem Leben wichtig geworden. Er hat seiner neuen Freundin und sich ein Handy mit Prepaidkarte gekauft. Seit März arbeitet er Vollzeit in einem Snack-Laden am Hauptbahnhof – noch nie hat ihm ein Job so viel Spaß gemacht. Mit seiner Freundin wird er in eine neue Wohnung nach Ahrensfelde ziehen. 2000 Euro werden sie für neue Möbel brauchen, haben sie sich ausgerechnet. Thorsten hat wieder über einen Ratenkauf nachgedacht, auf den Namen seiner Freundin, er darf ja nicht mehr, wegen des Insolvenzverfahrens. „Eigentlich kann ja nichts passieren“, sagt er. Seine Freundin will nicht. Thorsten wird das akzeptieren. Obwohl eigentlich ja nichts passieren kann.

Lisa Zimmermann

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