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Panorama: Schule auf Rädern

Auch Kinder umherziehender Sinti- und Roma-Familien werden unterrichtet: im Container in Dreilinden

Dass draußen alles anders ist, hat man drinnen schnell vergessen. Drinnen zeigt die Lehrerin ins Buch und der pausbäckige Junge, er heißt Santino, soll vorlesen. Er fährt langsam mit dem Finger unter dem Wort lang. Ka. Ka. Du. „Kakadu!“, ruft er und lacht. Und das Mädchen mit der Zahnspange und den langen Zöpfen neben ihm, seine Cousine Patricia, lacht mit. An den Wänden hängen Fotos der Schüler und gemalte Bilder.

Drinnen ist Schule. Eine kleine zwar mit nur zwei Schülern, aber nichts Ungewohntes. Draußen dagegen ist alles anders. Da erstreckt sich eine rissige Asphaltfläche, von Wald umgeben, auf der Campingwagen stehen, von deren Vorzelten der Regen tropft. Es riecht nach Tannen und Pilzen und Herbst. Bald werden auch diese Campingwagen weg sein. Draußen ist der Stellplatz Dreilinden, ehemals Stauraum für Autos, die auf Grenzabfertigung für den DDR-Transit warteten. Draußen ist seit 1995 die Adresse für Sinti und Roma, die in Berlin Halt machen.

Die Schule von Santino und Patricia ist ein rechteckiger Container. Dunkelgrün, sechs mal fünf Meter, links die Tür, rechts ein Fenster. Eine schmucklose Blechbüchse, die neben dem Pförtnerhäuschen steht. Aber sie ist auch ein großes Glück. Aus einer Antwort von Bildungssenator Klaus Böger (SPD) auf eine Kleine Anfrage der FDP: „Das Angebot auf dem Stellplatz hat eine hohe Akzeptanz. Die Eltern schicken ihre Kinder regelmäßig zur Schule.“ Das ist keine Selbstverständlichkeit. Böger: „Der Schulbesuch und die Möglichkeit der Durchsetzung der Schulpflicht hängen von den Reiseaktivitäten der Eltern ab.“

Die Familien von Santino und Patricia sind schon seit ein paar Wochen in Dreilinden, sie werden auch noch ein paar Wochen bleiben, bevor sie zurückfahren nach Süddeutschland, wo sie ihre Wohnungen haben, wo sie über Winter bleiben werden, wo die Kinder kurzzeitig regelmäßig in eine richtige Schule gehen.

Die Familien waren schon mehrmals in Dreilinden, die beiden Kinder kennen die Containerschule schon und Lehrerin Hiltraud Radtke. Es gefällt ihnen hier. „Hier muss man nicht so früh aufstehen!“, ruft Patricia und quietscht vor Lachen, und auch Santino fällt vor Vergnügen vorn über auf den Tisch. Dann muss Patricia vorlesen, sie kichert oft und stockt. Die Lehrerin lächelt angestrengt. Die Kinder sind elf Jahre alt. Eigentlich Klassenstufe 5. Tatsächlich seien sie „schulisch gefährdet“, sagt Radtke. Die 62-Jährige ist eine schmale Frau, die mit hochgezogenen Augenbrauen über ihre Lesebrille guckt und 30 Jahre Schule hinter sich hat. Seit 2003 ist sie in Dreilinden. Seit ihre Vorgängerin weg ist. Hiltraud Radtke kommt von der Berliner Pestalozzischule, einer Einrichtung mit Förderschwerpunkt. Die Containerschule sei eine tolle Erfahrung, sagt die Lehrerin, ihr gefalle das Provisorische.

Eine EU-weit geltende Vorschrift über die „schulische Versorgung von Kindern beruflich Reisender“ versucht, dieses Provisorische zu ordnen. Die Kinder müssen ein Schultagebuch mitführen. Alle Lehrer, die sie unterwegs hatten, schreiben dort hinein, was unterrichtet wurde. Am Ende der Reisesaison geben die Kinder das Tagebuch in ihren Schulen am Wohnort ab. Diese sogenannte Stammschulen stellen den Kindern auch Zeugnisse aus. Gut sind die aber nur selten.

90 Minuten sitzen Patricia und Santino in dem Container. Sie lesen, schreiben, rechnen, und Hiltraud Radtke kümmert sich nur um sie. 90 Minuten, von Montag bis Freitag. Das ist nicht viel, aber was würden die Kinder woanders lernen? Wenn sie für sechs Wochen in die nächstgelegene Grundschule gingen, wo niemand sie kennt und das Interesse an ihnen gering bleibt, weil sie ja bald wieder weg sein werden? Der Stellplatz in Dreilinden ist eigentlich eine Übergangseinrichtung, längst sollte saniert und ausgebaut worden sein, aber das Geld fehlt.

Zur Anlage gehören also weiterhin Wasch- und Toilettenhäuschen, die umständlich und teuer abgepumpt werden müssen, denn der Wald ist Naturschutzgebiet. Auch die Schule war als Ausnahmelösung gedacht. Dass sie so längst nicht mehr genutzt wird, weiß auch Beatrix Decking, die als Angestellte der Caritas die sozialpädagogische Leiterin in Dreilinden ist. In der nun zu Ende gehenden Saison besuchten nur drei Kinder vom Stellplatz eine ordentliche Schule in der Umgebung, mehr als 30 wurden in dem Container unterrichtet. Die Mütter würden ihre Kinder gern in der Nähe behalten, sagt Beatrix Decking, und sie nur widerwillig allein durch fremde Gegenden laufen lassen. Weil sie wissen, dass Sinti und Roma nicht sehr beliebt sind, weil sie fürchten, dass es Ärger geben könnte.

Im Container kommt jetzt Rechnen dran. Lehrerin Radtke schreibt eine „10“ an die Tafel auf Rädern. „Ich sage jetzt eine Zahl“, sagt sie zu den Kindern, „und ihr müsst sagen, wie viel von der bis zur zehn fehlen.“ Santino ächzt, Patricia zählt mit ihren Fingern. Sie rechnet schneller, und er verliert die Lust. Dass die 90 Minuten zu Ende gehen, merkt Hiltrud Radtke auch daran, wie die Konzentration der Kinder nachlässt. Hausaufgaben gibt sie nicht. Das habe keinen Sinn, sagt sie, die würden sowieso nicht gemacht. Als die Kinder sehen, dass es halb zwölf ist, packen sie ihre Hefte in die Taschen und laufen nach draußen, wo ihnen Ritchie entgegenkommt, ein Teenie mit langen zurückgegelten Haaren. Jetzt ist er dran. 90 Minuten Einzelunterricht. Er lässt den Stift zwischen den Fingern tanzen und konzentriert sich. Er will Dachdecker werden wie sein Vater. Dafür muss er rechnen können.

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