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Panorama: Seit der Wirtschaftsaufschwung stockt, spart der Staat vor allem bei der Hilfe für Randgruppen

Die "Pekinger Jugendzeitung" ist empört: In Einkaufsstraßen wie der Xidan könne man vor Bettlern kaum noch einkaufen. Kleine Kinder würden sich so lange "an die Beine von Passanten klammern", bis sie Geld bekämen.

Die "Pekinger Jugendzeitung" ist empört: In Einkaufsstraßen wie der Xidan könne man vor Bettlern kaum noch einkaufen. Kleine Kinder würden sich so lange "an die Beine von Passanten klammern", bis sie Geld bekämen. Anschließend würden sie "Eiscreme und teures Fast Food" kaufen und am Abend "im Taxi nach Hause fahren".

So rosig ist das Leben auf Pekings Straßen nicht. Seit der Wirtschaftsaufschwung ins Stocken geraten ist, müssen sich immer mehr Chinesen für eine Schüssel Reis als Bettler durchschlagen. Was in Mao Tse-tungs Volksrepublik noch undenkbar schien, ist in Chinas Städten inzwischen Alltag: Obdachlose und Krüppel kriechen in der Hoffnung auf eine milde Gabe über die staubigen Bürgersteigen. Vor den Hotels der Innenstädte haben Mütter ihre kleinen Kinder zum Betteln erzogen. In dem Pekinger Kneipenviertel Sanlitun ziehen Mädchen durch die Bars, um Rosen zu verkaufen.

Nach zwei Jahrzehnten wirtschaftlicher Öffnungspolitik sind vor allem Behinderte und Kinder die Verlierer der Reformen. Nach Angaben der chinesischen Behindertenorganisation leben von 52 Millionen behinderten Menschen in China 13 Millionen in Armut - 720 000 allein in Peking.

Einer davon ist Liu Hongxing. In der Xizhimen-U-Bahnstation, mitten im Dreck, hockt der 40-jährige auf dem Betonboden und spielt auf seiner Erhu, dem zweisaitigen chinesischen Streichinstrument. Neben ihm steht seine Frau Wang Jing auf ihren Stock gestützt und hält den Passanten eine Blechdose entgegen. "Good Luck!" heißt es in großen Schriftzeichen hinter ihnen auf einem Werbeplakat, doch das Ehepaar kann die Botschaft nicht lesen. Liu und seine Frau sind blind. "Ein wenig Gück würden wir wünschen", sagt er. Das Musizieren sei ein mühsames Geschäft. Pro Tag komme er auf 25 Yuan, umgerechnet 5,60 Mark. Das reicht gerade zum Überleben.

Theoretisch steht Liu Geld vom Staat zu. "Im Augenblick bekommen Behinderte, deren Monatseinkommen unter dem Existenzminimum von 190 Yuan liegt, 240 Yuan Unterstützung", sagt Xiang Zicheng von der staatlichen chinesischen Behindertengesellschaft. Jedes Jahr stelle die Regierung 15 Milliarden Yuan zur Armutsbekämpfung zur Verfügung. Darüber hinaus bekäme seine Organisation noch einmal 500 Millionen Yuan, um behinderten Menschen zu helfen.

Die Realität sieht anders aus. Obwohl sie eigentlich berechtigt wären, bekommen Liu und seine Frau keinen Pfennig vom Staat. Seit seiner Entlassung aus einer Bierfabrik bekommt Liu lediglich 170 Yuan Übergangsgeld von seiner alten Firma. "Die Behindertenorganisation zahlt nichts. Sie sagen, sie seien nicht zuständig", sagt der Blinde. Auch seine Frau bekomme keine Unterstützung. Weil sie keine gebürtige Pekingerin ist, sei immer noch die alte Arbeitseinheit ihres Heimatortes zuständig. Und die überweise kein Geld in die Hauptstadt.

Stephan Schepers

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