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Selbst schlachten: Von der Hand in den Mund

Eine Packung Hack in der Hand, fragte er sich: Wo bleibt die Ehrfurcht vor der Kreatur? Da beschloss unser Autor, nur noch Fleisch von Tieren zu essen, die er selbst getötet hatte. Ein Versuch.

Ich habe getötet. Es war keine emotionale Kurzschlusshandlung. Es passierte nicht im Affekt. Es war reife Überlegung, die mich dazu brachte, ein Leben zu beenden. Ich wollte wissen, was es bedeutet, was es in mir auslöst – ob ich es kann.

Die Erkenntnis traf mich im Supermarkt. Ich stand vor dem Regal mit den Nudeln. In einer Hand eine Schachtel Spaghetti, in der anderen eine Packung eingeschweißtes Hackfleisch. Ich hatte wenig Zeit, in einer Stunde sollten Leute zum Essen kommen. Doch statt Parmesan zu suchen, stand ich plötzlich bewegungslos da. Was war noch mal der Unterschied zwischen Fleisch und Nudeln? Ich wusste es nicht. Eines der Produkte in meiner Hand hatte mal gemuht, fiel mir ein. Wenn ich in mich hineinhorchte, machte das jedoch überhaupt keinen Unterschied. Beide Lebensmittel erschienen mir wie Gebrauchsgegenstände – und mit einem Mal fühlte sich das falsch an. „Ich habe keine Ahnung, was es bedeutet, dass ein Tier sterben muss, bevor ich Fleisch kaufe“, gestand ich mir ein. Sechs Wochen später nahm ich ein Beil und schlug einem Perlhuhn den Kopf ab.

Vegetarier sein, das kam für mich lange nicht infrage. Als ich aufwuchs, aßen in meiner Familie alle Fleisch. Unser Haus stand am Waldrand. Manchmal beobachteten wir Kaninchen, die zwischen den Bäumen hervorhoppelten. Aber ich hatte nie so viel Mitleid mit ihnen, als dass mir ihr Fleisch nicht mehr geschmeckt hätte. Als kleiner Junge war ich mit meinem Vater ab und zu angeln. Ich erinnere mich, dass es mir Spaß gemacht hat, den Fischen auf den Kopf zu hauen. Dass man Tiere isst, erschien mir immer normal. Löwen fraßen Antilopen, Menschen eben Schweine. Der Kreislauf des Lebens.

Die Fragen kamen später. Es war kurz nach der Jahrtausendwende, ich war Anfang 20 und ging viel auf Konzerte. Metal, Punk, später fast nur noch Hardcore. Laut, schnell, brutal. Herausgebrüllte Gesellschaftskritik, zu der man sich beim Tanzen vor der Bühne gegenseitig Hämatome zufügte. In der Szene gab es viele Vegetarier oder Veganer, und irgendwann hatte auch ich in meinem Freundeskreis jede Menge Leute, die kein Fleisch aßen. Es war nie so, dass mich jemand missionieren wollte. Doch die ständige Konfrontation mit Menschen, die sagten, „Nein, das esse ich nicht“, setzte Gedanken in Gang. Ich zweifelte nicht am Fleischessen an sich. Aber ich begann darüber nachzudenken, was es überhaupt bedeutet, Tiere zu essen.

Natürlich hatte auch ich Filme über Schlachthöfe gesehen und die Tiertransporte auf der Autobahn. Ich wusste, dass man eigentlich nicht Steak, sondern Kuh bestellt. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Wissen und Begreifen und das Begreifen ereilte mich eben dort zwischen den Supermarktregalen. Es forderte eine Entscheidung. „Ich muss verstehen, was es bedeutet, Tiere zu essen“, sagte ich mir. Und um zu begreifen und nicht nur zu wissen, dass Hackfleisch und Nudeln eben nicht dasselbe sind, musste ich töten. Ich wollte weiter Fleisch essen, aber nur, wenn ich selbst in der Lage wäre, es vom Stall auf den Teller zu bringen.

Ich warf das Hackfleisch zurück in die Kühltheke und schnitt stattdessen Gemüse in die Tomatensoße. Am nächsten Tag griff ich zum Telefonbuch.

Metzger, die ich fragte, runzelten die Stirn

Die Idee in die Tat umzusetzen, gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht. Schlachthöfe gab es 2003 in Berlin nicht mehr. „Tiere essen“, Jonathan Safran Foers Bestseller-Plädoyer für Vegetarismus, war noch lange nicht geschrieben, und Mark Zuckerberg, der heute angeblich auch nur noch isst, was er selbst erlegt, hatte damals weder Facebook gegründet noch einen Jagdschein gemacht. Metzger, die ich fragte, runzelten die Stirn, Geflügelzüchter, die ich anrief, reagierten mit Misstrauen. Laut dem Zentralverband der Deutschen Geflügelwirtschaft gibt es zwar kein Gesetz, das das Selberschlachten von Hühnern generell verbietet, gerne sieht das Veterinäramt das allerdings nicht. Nach ein paar Wochen schließlich fand ich ein Ehepaar in Brandenburg, die sagten, ich könne gerne vorbeikommen. Sie hätten ein paar Tiere, die sie sonst auf der Grünen Woche verkaufen wollten.

Ein Freund fuhr mich hin. Das Haus war ein kleiner Bauernhof in einem Ort mit einer Kirche und vielleicht 300 Einwohnern. Die Küche war gelb gefliest. Die Frau stand in Gummistiefeln am Herd, der Mann setzte sich an den Küchentisch, als ich noch einmal erklärte, was ich vorhatte. Ich hatte das Gefühl, die beiden seien amüsiert. Schlachten war für sie, die ihr Leben lang mit Tieren gelebt hatten, etwas Alltägliches.

Der Mann nahm mich mit in den Garten hinter dem Haus. Dort standen vier Gehege. Ein paar Autoreifen und Bretterkisten stapelten sich zwischen den Gemüsebeeten. Es roch nach Tier und Kartoffelschalen. Die Perlhühner waren ganz hinten. „Dann such’ dir mal eins aus“, sagte der Bauer, als er mich ins Gehege schob. Ich sagte: „Äh, das“, und zeigte willkürlich auf eines der Tiere, die auseinanderstoben. Der Bauer war schneller. Er schnappte das schwarz-weiß gefleckte Huhn, packte beide Beine und Flügel mit einer Hand, dann gab er es mir.

Ich war überrascht, dass es sich nicht kräftiger wehrte. Es wirkte zerbrechlich. Ich hatte Angst, etwas kaputtzumachen, wie ich es mit dem Kopf nach unten festhielt. Auch bildete ich mir ein, die Irritation in den Augen des Tieres zu sehen. Wie es denn hieße, wollte ich wissen. Der Bauer zuckte die Schultern. „Das hat keinen Namen“, sagte er und drückte mir einen Holzknüppel in die Hand. „Gib ihm eins über den Schädel“, sagte er, „damit es betäubt ist.“ Ich zögerte kurz. Dann schlug ich zu. Der Körper erschlaffte. „Jetzt den Kopf auf den Holzblock.“ Ich folgte den Anweisungen und spürte, wie mir jemand ein Beil reichte. Ich war so konzentriert, dass ich das Gefühl hatte, mich selbst zu beobachten. Ich holte aus – und trennte den Kopf ab.

Blut schoss aus dem Hals und über den Schneideblock, Spritzer landeten auf meinen Schuhen. „In den Trichter halten!“, rief der Bauer, fuchtelte mit den Händen und zeigte auf ein schwarzes Eisengerät neben mir. Ich hielt den kopflosen Hals hinein und während das Huhn in seinen letzten Zuckungen heftig strampelte, lief das warme Blut aus dem Körper in die Auffangschale. „Das war alles?“, dachte ich, während die Bewegungen des Huhns schwächer wurden.

Ich hatte mit einer Offenbarung gerechnet, stattdessen spürte ich Enttäuschung. Das ging so schnell. Ich hatte mir das alles bewegender, ergreifender vorgestellt, aber das hier war so unspektakulär, so normal – so einfach.

Der Bauer nahm mich mit in einen Verschlag, wo seine Frau einen Topf kochendes Wasser bereitgestellt hatte. „Kurz reinlegen, dann lässt es sich besser rupfen“, sagte er. Ich versenkte das Tier, danach riss ich in mühevoller Arbeit die Federn aus. Als es kahl war, flämmten wir mit einem Bunsenbrenner die letzten Stoppeln ab. Dann legte ich den nackten, plötzlich viel kleiner wirkenden Körper auf ein Holzbrett, knickte die Beine ab, schnitt die Geschlechtsteile mit einem Küchenmesser heraus, öffnete den Bauch, um die Innereien zu entfernen. Meine ganze Hand verschwand in der warmen Bauchhöhle. Ich zog ein blutiges kleines Herz hervor, eine winzige Leber, gefühlte fünf Meter Verdauungstrakt. Ob ich das auch mitnehmen wolle, fragte der Bauer. Ich schüttelte den Kopf.

Die Erfahrung erblasste langsam wieder

Auf der Fahrt zurück nach Berlin wurde ich nachdenklich. Die Konzentration ließ nach, die Erkenntnis, was ich getan hatte, sickerte ein. Fühlte ich mich schuldig? Nein. Berührt? Ja. Langsam wich die Enttäuschung Ehrfurcht. Ein Gefühl von Achtung für die Kreatur, eine Ahnung von der Heiligkeit der Schöpfung, so etwas spürte ich, während ich wieder zu Hause dem baumelnden Körper in meiner Dusche beim Abkühlen zuschaute. Am Abend rieb ich ihn mit Paprika ein und schob ihn in den Ofen. Es schmeckte hervorragend.

Doch die Tat hatte Folgen. Auch mit Abstand schien sie mir zu bedeutend, um jedes Mal irgendwo anonym und gedankenlos durchgeführt zu werden, wenn mir der Sinn nach Putenbrustfilets stand. Sechs Jahre lang habe ich nur gegessen, was ich selbst geschlachtet habe. Doch weil das Organisieren, Töten und Zerlegen für einen Stadtbewohner einen ziemlich großen Aufwand bedeutet, lebte ich in dieser Zeit quasi vegetarisch. Noch ein Huhn, eine Ente, zwei Fische habe ich getötet. Kein Schwein, keine Kuh – auch, weil das juristisch komplizierter ist.

Erst mit Ende 20 änderte sich etwas. Der Verzicht auf Fleisch erschien mir mehr und mehr wie eine Regel, die ich zu befolgen hatte, nicht wie ein Wunsch. Ich sagte mir, dass es notwendig sei, richtiger. Doch das Leben in einem ständigen Zustand von Verzicht macht unglücklich. Beim Kochen fiel es besonders auf. Ohne Fleisch war das nur der halbe Spaß. Ich war kein Vegetarier, ich lebte nur wie einer. Ich hatte immer eine Antwort, wenn jemand fragte, warum: die Umwelt, der Respekt, die Lebensmittelskandale. Irgendwann fragte mich aber jemand stattdessen: Für wen machst du das alles eigentlich? Mir fiel keine Antwort ein. Am selben Abend beendete ich das Experiment.

Vier Jahre ist das jetzt her. Ich esse wieder Fleisch von Tieren, die jemand anders getötet hat. Supermarktfleisch meide ich jedoch. Ich habe das Gefühl, dass ich den Tieren, die ich esse, wenigstens schulde, dass sie nicht in Fabriken am Fließband zu Fertignahrung produziert werden, nachdem man sie mit Medikamenten und Kraftfutter vollgestopft hat. Kürzlich ließen Gäste Supermarktschnitzel bei uns im Kühlschrank liegen. Ich werfe nicht gerne Lebensmittel weg, aber vom Geruch des Fertigfleischs wurde mir so schlecht, dass mir nichts anderes übrig blieb. Wenn ich jetzt Fleisch kaufe, dann in der Regel bei einem Biometzger. Das ist ein Kompromiss, mit dem ich mich entschlossen habe zu leben.

An Silvester habe ich Sauerbraten gemacht, ein Rezept von meiner Oma. Als ich in der Küche stand, zwei Kilo rotes Fleisch auf dem Schneidebrett vor mir, versuchte ich, an die Kuh zu denken, von der es stammt. Ich merkte, dass die Abstraktion zurückkehrt, die Erfahrung des Erlebten verblasst. Vielleicht ist es Zeit, noch mal auf den Bauernhof zu fahren.

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