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Verkauft wie Puppen. Während des Prozesses um die geraubten Kinder protestierten Frauen vor dem Gerichtsgebäude.

© Oscar del Pozo, AFP

Spanien: Francos geraubte Babys

Tausenden Müttern wurden während der Diktatur die Kinder weggenommen. Jetzt gab es einen Prozess.

Der Duft frischer Blumen wabert über dem Wohnzimmertisch von Isabel Santos. Zwischen die Familienfotos hat sie ein Bild von Jesus Christus platziert. Der Glaube an den Erlöser hat sie nie verlassen in all den Jahrzehnten, auch wenn die 81-jährige durch die Hölle gegangen ist. Damals, als Spanien noch fest im Griff der Militärdiktatur um General Franco steckte, raubten sie Isabel Santos das Kind und gaben es einer anderen Familie. Es war kein Überfall auf offener Straße oder ein nächtlicher Einbruch in die Wohnung. Es war eine perfide Entführung, die wohl von staatlichen Stellen gesteuert und verschleiert wurde.

Isabel Santos war 26 Jahre alt, als sie 1963 per Kaiserschnitt in einer Klinik im andalusischen Málaga ihr erstes Kind gebar. Einen Jungen, wie man ihr später sagte. Gleich nach der Geburt nahm eine der Krankenschwestern das Baby an sich und verschwand. Kurz darauf die grausame Nachricht: Der Säugling sei mit Fehlbildungen auf die Welt gekommen und gestorben. Die Mutter hatte es nicht einmal mehr umarmen können.

Der Schmerz verschwindet nicht

Zwar hämmerte in ihrem Kopf unaufhörlich diese eine Frage: Wie kann das sein? Aber sie stellte den Tod des Kindes nicht in Frage. Als junge Frau, die in einer Diktatur groß geworden war, hatte sie gelernt, gehorsam zu sein. Die Klinik verwehrte Isabel Santos sogar einen letzten Blick auf ihr Kind, und auch die Entscheidung, wie es begraben werden sollte, übernahm die Klinik für sie. Für die Mutter brach eine Welt zusammen.

Mehr als 40 Jahre lang glaubte Isabel Santos, ihr Junge sei tot. Heute weiß sie: Sie gebar damals keinen Jungen, sondern ein Mädchen, und mit höchster Wahrscheinlichkeit verließ dieses Kind das Krankenhaus lebend. Das falsche Geschlecht nannte man ihr wohl, um eine falsche Fährte zu legen. Für Isabel Santos macht diese Vorstellung den Verlust ihrer Tochter noch unerträglicher. „Es macht mich verrückt zu wissen, dass mein Kind lebt“, sagt sie. Der Schmerz ist noch heute so groß, dass sie ihre Tränen unterdrücken muss. „Ich will doch, dass sie weiß, dass ich ihr meine Liebe schenken und sie behalten wollte“, sagt Santos.

2011 war der Skandal um die gestohlenen Kinder in Spanien losgetreten worden. Die Parallelen jener Fälle, von denen plötzlich die Rede war, zu ihren eigenen Erlebnissen erschütterten Isabel Santos. Sie begann nachzuforschen. Die Dokumente bestätigen die Geburt eines Mädchens. Sie attestieren Isabel Santos auch eine schwere Fiebererkrankung während der Schwangerschaft, die die vermeintlichen Fehlbildungen provoziert haben sollen. Tatsächlich aber war die Mutter während der Schwangerschaft kerngesund. Ein Dokument, das den Tod des Kindes bescheinigt, gibt es hingegen nicht.

Schuldig, aber straffrei

In Spanien sind über viele Jahrzehnte Tausende, manche sagen Hunderttausende Kinder ihren leiblichen Eltern entrissen wurden. Bis zu Francos Tod im Jahr 1976 ging es dabei vor allem um eine ideologische und moralische Säuberung der Gesellschaft. Regimetreue Paare, die nicht schwanger werden konnten, sollten die Möglichkeit bekommen, Kinder im Geiste der Diktatur heranzuziehen. Andersdenkenden oder schwangeren Müttern ohne Trauschein wurden die Kinder geraubt.

Zu Wochenbeginn endete in Madrid der erste Prozess gegen einen der verwickelten Ärzte. Der 85-Jährige Eduardo Vela wurde von den Richtern schuldig gesprochen. Doch bestraft wurde er nicht, weil die Taten verjährt sind, argumentierte das Gericht. Die neue sozialistische Regierung will versuchen, eine Verjährung zu verhindern. Eine neue Abteilung im Justizministerium trägt den Namen „Historisches Gedächtnis“ und soll die Aufarbeitung vorantreiben. In vielen Fällen aber kommt die Initiative zu spät, weil die Mütter der Kinder bereits verstorben sind.

Doch auch nach dem Übergang in die Demokratie gingen die Verbrechen weiter. Ärzte, Anwälte und Geistliche sollen bis in die 1990er Jahre hinein dabei viel Geld verdient haben. Mari Cruz zählt zu den Frauen, die nach Francos Tod Opfer wurden. Ihr Sohn kam 1980 einige Wochen zu früh auf die Welt. Täglich besuchte sie das Kind und schaute stundenlang durch die Scheibe nach ihm, bis er eines Tages fort war. Angeblich verstorben. Nur gegen eine hohe Geldzahlung war das Krankenhaus bereit, der Familie das Kind noch einmal zu zeigen. Ein zynischer Akt, weil den Verantwortlichen klar war, dass die Familie nicht zahlen konnte. Schon damals wollte Cruz nicht glauben, was man ihr sagte. Sie klapperte alle Friedhöfe der Umgebung ab. Nie fand sie ein Grab, in dem ihr Junge beerdigt sein könnte. Wo ihr Sohn heute ist, weiß sie nicht.

Eine NGO hilft

Ihrer Wut und Trauer verschafft sie heute etwas Luft, indem sie sich im Opferverband S.O.S Bebes robados engagiert, der eine eigene DNA-Bank eingerichtet hat, rechtliche Unterstützung bietet und Anleitungen gibt, wie betroffene Familien einem Verdacht nachgehen können. Die 59-Jährige hat zwei weitere Kinder geboren. „Aber das ändert nichts an dem Schmerz“, sagt sie, als sie vor einer Pinnwand in dem S.O.S.-Büro in Madrid steht, an dem für jeden dokumentierten Fall ein Papierschnuller angebracht wird. Darauf stehen die Namen der Kinder, die Tage der Geburt und das Krankenhaus, in dem sie verschwanden.

Cruz hofft bis heute auf Gerechtigkeit. Aber sie sieht die Sache auch sehr nüchtern. „Da haben viele Leute viel Geld bezahlt für die illegale Adoption von Neugeborenen. Das sind einflussreiche Leute, und die stecken alle unter einer Decke. Die wollen nicht, dass irgendetwas ans Licht kommt. Das macht es alles nicht einfacher.“

Marcel Grzanna

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