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Panorama: Stille im Saal

In Celle hat das Verfahren um das größte Bahnunglück in der Geschichte der Bundesrepublik begonnen

Von Gabriele Schulte, Celle

206 n. 206 Geburtstage. 206 mal die Herkunftsorte und die Unfallfolgen für jeden dieser Menschen. Eine andächtige Stille breitet sich aus im Celler Gerichtssaal, als zwei Staatsanwälte zum Auftakt des Eschede-Prozesses nacheinander die Liste der 101 Toten und 105 Verletzten des Zugunglücks von Eschede von A bis Z vorlesen. Eine Dreiviertelstunde dauert das. Denn die Vertreter der Anklage rattern die Namen nicht herunter, sondern lassen Raum, sich zwischen den nüchternen Fakten die Schicksale vorzustellen: Geschichten wie die des hirnverletzten Jungen, der am 3. Juni 1998 im ICE Wilhelm-Conrad-Röntgen seine Mutter verlor. Oder die der einst gemeinsam in einem Haus lebenden Großfamilie aus Süddeutschland, von der nur der Großvater übrig blieb.

Drei Männer sind angeklagt, all diese Schicksale verschuldet zu haben: der 67 Jahre alte frühere Bahn-Abteilungspräsident Thilo von M., der 56-jährige technische Bahn-Sachbearbeiter Volker F. und der 54 Jahre alte Franz M., ein Ingenieur des Bochumer Radreifen-Herstellers. Jeder der drei auf der Anklagebank wird von zwei Verteidigern flankiert. Alle drei vermeiden den Blick zu den Nebenklägern auf der anderen Seite – die damals Verletzten und die Angehörigen von Todesopfern sitzen weit entfernt, wegen der Größe des Kreistagssaals, den das Lüneburger Landgericht für den international beachteten Prozess zum Gerichtssaal umfunktioniert hat. Statt dessen starren die Angeklagten hinunter auf ihre Tische und blättern gelegentlich in dicken Aktenordnern, während die Staatsanwälte die Anklage wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung verlesen. Die drei grauhaarigen Männer in Anzug, Hemd und Krawatte lassen anschließend über ihre Anwälte den Opfern des ICE-Unglücks ihre „aufrichtige Anteilnahme" mitteilen. Sie trügen am Unfall keine Schuld, lassen die Angeklagten erklären. Selbst aussagen wollen sie nicht. Die Staatsanwälte haben die drei Ingenieure herausgepickt aus einer größeren Gruppe von möglichen Verantwortlichen, die zunächst in ihr Visier geraten waren. „Der Unfall geht auf einen Ermüdungsbruch des Radreifens zurück, der über längere Zeit entstanden ist", sagt Staatsanwalt Heinrich Dresselhaus. Mit so einem Bruch hätten die drei rechnen müssen, als sie den Radreifen konstruierten, beziehungsweise 1992 seinen Einsatz in Hochgeschwindigkeitszügen zuließen. Sie hätten „aufgrund ihres Fach- und Erfahrungswissens" erkennen müssen, dass zumindest ein zu weites Abfahren der Gummireifen unterbunden und häufige, genaue Kontrollen unabdingbar gewesen wären. „Die Untersuchungen waren unzureichend", heißt es in der Anklageschrift. „Auf Festigkeitsberechnungen der Radreifen verzichteten die Angeklagten ganz." Zugunsten der kommerziellen Interessen der Bahn, die das Rumpeln im Intercity-Express abstellen wollte, habe Bahn-Abteilungsleiter Thilo von M. in Minden die Entwürfe mit gummigefederten Radreifen genehmigt und dann ihrem Einsatz in den Schnellzügen zugestimmt. Gemeinsam mit dem Sachbearbeiter Volker F. habe er eine willkürliche Radabfahr-Grenze festgesetzt und keine regelmäßigen Rissfestigkeitsprüfungen per Ultraschall festgeschrieben. Ähnlich sei der Konstrukteur Franz M. aus dem Bochumer Herstellerwerk verfahren. „Dabei waren Risse in gummigefederten Radreifen vom Straßenbahnbetrieb bekannt", meint Staatsanwalt Dresselhaus.

Über die technischen Einzelheiten wird sich die 1. Strafkammer unter Vorsitz von Michael Dölp in den kommenden Monaten ein Bild machen müssen. Dabei sollen Zeichnungen helfen, die hinter den drei Berufsrichtern, den zwei Schöffen und drei Ersatzrichtern an die Klinkerwand gepinnt wurden. Die Bilder zeigen die ICE-Strecke bei Eschede, die Position der Zugwagen nach dem Unglück und die Weise, in der sich der gerissene Radreifen vom übrigen Rad abwickelte. Hinten im Saal stehen Modelle, von denen eines an eine Modelleisenbahn im Wohnzimmer erinnert. Es stellt einen ICE dar, wie er sich am 3. Juni 1998 auf den Weg von München nach Hamburg gemacht hat. Daneben ist ein anderes Modell aufgebaut: Es zeigt den ICE Wilhelm-Conrad-Röntgen an der Brücke zwischen Eschede und Rebberlah. Wagen sind entgleist, haben sich ineinander verkeilt und die Brücke zum Einsturz gebracht. Als weiteres Anschauungsmaterial lagern in einer Bundeswehrkaserne und beim Technischen Hilfswerk 100 Meter Gleise, 22 je acht Tonnen schwere Drehgestelle und zwei komplette ICE-Wagen. Auch eine Besichtigung des Unglücksortes hat das Gericht vorgesehen.

Doch zunächst könnte, wie Nebenklage- Anwalt Reiner Geulen am Mittwoch befürchtet, eine „Gutachterschlacht" bevorstehen. Die Verteidiger der Angeklagten hatten sich auf Stellungnahmen „renommierter“, gar „weltführender" Experten aus Japan, Südafrika und Schweden berufen. Diese bezeugten, so die Verteidiger, dass die Arbeit der drei Ingenieure „dem damaligen und auch heutigen Stand der Technik entsprach."

Dort haben auch etwa 40 Opfer des Zugunglücks Platz genommen. Ein Dutzend andere Verletzte und Angehörige sitzen auf den Stühlen der Nebenklage – längst nicht alle der mittlerweile 37 zugelassenen Nebenkläger haben sich den Weg nach Celle zugetraut, einige konnten aus gesundheitlichen Gründen nicht kommen. Auch in ihrem Namen sagt Heinrich Löwen, der im schwarzen Anzug erschienene Sprecher der „Selbsthilfe Eschede", die Betroffenen könnten vielleicht ihren Frieden finden, wenn in dem Strafprozess endlich die Verantwortlichkeiten geklärt würden. „Ich empfinde keinen persönlichen Hass auf die Angeklagten", meint der Berufsschullehrer aus Vilshofen bei Passau mit fester Stimme.

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