zum Hauptinhalt
Update

Störfälle in Fukushima: Die letzte Chance schwindet

Das schwer beschädigte Atomkraftwerk Fukushima wird zur immer größeren Gefahr. Der Einsatz der Lösch-Hubschrauber hat die Intensität der Strahlung nicht verändert. Die Zahl der Todesopfer nach der Naturkatastrophe steigt weiter.

Die Lage bleibt ernst. So ernst, dass die Bundesregierung den rund 1000 verbliebenen Deutschen im Großraum Tokio jetzt rät, sich in andere Landesteile in Sicherheit zu bringen oder ins Ausland zu reisen. Es handle sich um eine „erhebliche Aktualisierung“ der Reisehinweise für Japan, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts am Mittwoch in Berlin. Das Wetter steht zwar im Moment günstig, weshalb der Wind die Radioaktivität derzeit noch auf das Meer hinaustreibt. Aber die Situation rund um den Krisenreaktor Fukushima wird immer dramatischer. Immer mehr Menschen werden evakuiert. Mittlerweile ist von einer Strahlung die Rede, die ein „gesundheitsgefährdendes Maß“ erreicht habe.

Warum bekommt der Akw-Betreiber die Havarie nicht in den Griff?

Am Tag sechs der Katastrophe musste das gesamte Gelände für mehr als eine Stunde komplett geräumt werden. In dieser Zeit dürfte die Kühlung mit Feuerwehrspritzen für die drei Reaktoren nicht mehr gegeben gewesen sein. Ähnliches gilt für das Abklingbecken des Reaktors 4. Beim Reaktor 3, der Anlage, die mit plutoniumhaltigen Mox-Brennelementen beladen ist, war von etwa 8.30 Uhr (Ortszeit) an eine weiße Rauchwolke zu sehen, berichtet die japanische Nachrichtenagentur Kyodo. Der Betreiber Tokyo Electric Power Company (Tepco) ließ am Mittwoch wissen, dass der Schutzbehälter, also die zweite Hülle des Reaktorkerns des Reaktors 3, beschädigt sein könnte. Das dementierte die japanische Regierung im Lauf des Tages.

Noch dramatischer und gefährlicher für die Beschäftigten auf dem Kraftwerksgelände stellt sich die Lage beim Reaktor 4 dar. Die Anlage ist im Winter zur Revision vom Netz gegangen. Nach Informationen der Gesellschaft für Reaktor- und Anlagensicherheit (GRS) ist der Reaktorkern vollständig entladen worden. Es befinden sich also keine Brennelemente mehr im Reaktordruckbehälter. Aber diese zum Teil noch relativ neuen Brennelemente liegen im Abklingbecken unter dem Dach des Reaktorgebäudes. „Deshalb ist das derzeit das gefährdetste in Sachen Wärmefreisetzung“, sagte Michael Sailer, Geschäftsführer des Öko-Instituts Freiburg und Mitglied der Reaktorsicherheitskommission. Auch nach zwei bis drei Monaten Abklingzeit „ist das etwas, was man ernsthaft kühlen muss“, sagte Sailer.

Beim Reaktor 4 könnte nun Folgendes passiert sein: Wegen der frischen Brennelemente hat sich viel mehr Wärme entwickelt als normalerweise in einem Abklingbecken. Das Wasser ist schneller verdampft, der Wasserspiegel sank, weil kein weiteres Kühlwasser in das Becken floss. Im Wasser „findet ständig eine Radiolyse statt“, sagt Sailer. Das ist eine chemische Reaktion, bei der Sauerstoff und Wasserstoff entsteht. So könnte es am Dienstag zur Explosion in dem Brennelementebecken gekommen sein. Am Mittwoch wurde erneut ein Feuer gemeldet. Da es am Dienstag wohl nur unzureichend gelungen war, genügend Wasser in das Becken zu befördern, könnte also auch das Zirkon, der Stoff, mit dem die Brennelemente ummantelt sind, in Brand geraten sein. Abgesehen davon, dass dabei schon relativ viel radioaktive Strahlung frei wird, die aus einem offenen Becken auch nicht zurückgehalten werden kann, besteht im Reaktor 4 noch ein anderes Risiko. Wenn die Brennelemente nicht ausreichend gekühlt werden können, ist nach Sailers Einschätzung trotz des relativ geringen Aktivitätsgrads auch nicht auszuschließen, dass die Kettenreaktion wieder in Gang kommt. Tepco stützte diese Einschätzung am Mittwoch: „Die Möglichkeit einer Re-Kritikalität ist nicht null.“ Sprich: Es könnte noch dramatischer werden.

Deshalb hofft Sailer, dass es gelingt, vom Hubschrauber aus Wasser und Borsäure in das Becken zu bringen. Doch der Einsatz der Lösch-Hubschrauber hat die Intensität der radioaktiven Strahlung am havarierten Atomkraftwerk Fukushima Eins nicht verändert. Die Dosis sei gleichgeblieben, berichtete die Nachrichtenagentur Kyodo unter Berufung auf den AKW-Betreiber Tepco. Der Fernsehsender NHK berichtete ebenfalls von unveränderten Werten. Ob das in vier Ladungen abgelassene Wasser zumindest die Temperatur in den Unglücks-Reaktoren abgesenkt hat, war zunächst nicht bekannt.  Die Hubschrauber-Besatzung wird nach dem Manöver über dem havariertem Atomkraftwerk nun dekontaminiert. Nun hoffen die Verantwortlichen laut Berichten des Fernsehsenders NHK und der Nachrichtenagentur Kyodo nun, dass die Polizei mit Wasserwerfern für Kühlung sorgen könnte.

Wie gefährlich ist die Situation?

Wenn es im Abklingbecken des Reaktors 4 zu einer Kernschmelze käme, dann wäre darunter nur eine Betondecke, bevor die strahlende Masse auf den Boden des Reaktorgebäudes fiele. Dabei würde unweigerlich sehr viel Radioaktivität frei.

Aber auch die Lage bei den drei Reaktoren in der Kernschmelze ist alles andere als unter Kontrolle. Am Mittwoch gab Tepco die Einschätzung ab, dass beim Reaktor 1 rund 70 Prozent der Brennelemente im Reaktordruckbehälter beschädigt seien, im Reaktor 2 seien es etwa 30 Prozent. Nach Experteneinschätzung könnte beim Reaktor 1 am Wochenende der absolute Ernstfall eintreten, nämlich dass sich die glühende Lava aus Brennelementen durch den Reaktordruckbehälter geschmolzen haben könnte. Es sei denn, es gelingt den Mannschaften, den Reaktorkern ständig zu kühlen. Dann bestünde noch immer die Chance, dass der schmelzende Kern in seiner Schutzhülle gehalten werden könnte. Doch sollte er tatsächlich durchschmelzen, würde er dann zunächst auf Beton treffen. Wie dick die Betondecke sein könnte, können Experten auch nicht einschätzen. Bei neuen Akw ist sie zwischen zwei und drei Meter dick. Bei älteren wohl eher dünner. Der glühende Atomkern würde also auf Beton treffen und diesen zum Schmelzen bringen. Dabei entsteht Wasserstoff, was zu Wasserstoffexplosionen führen könnte. Im Gegensatz zu anderen Akw, die in Meernähe gelegentlich auf Stelzen im Schlamm stehen, sind die japanischen Akw auf Fels gebaut. Sonst hätten sie schon dem Erdbeben nicht standhalten können. Das wäre im schlimmsten Fall gut, weil Fels so schnell nicht schmilzt.

Wie kann jetzt noch agiert werden?

„Alles, was jetzt passiert, ist reines Krisenmanagement“, sagte Michael Sailer schon am Samstag, als Reaktor 1 sich auf eine Kernschmelze zubewegte. Experten glauben, dass es täglich weniger Handlungsoptionen gebe. Jetzt soll eine US-Drohne erstmal für Aufklärung sorgen. Die hochauflösenden Kameras an Bord des unbemannten Flugzeugs sollen Bilder aus dem Inneren der Reaktoren liefern. Viele Experten bedauern, dass Japan die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) nicht schon zu Beginn der Krise um Hilfe gebeten hat. IAEO-Chef Yukiya Amano hat die Situation nun als „sehr ernst“ bezeichnet. Er werde so schnell wie möglich selbst nach Japan fliegen, sagte der Japaner in Wien.

Es ist davon auszugehen, dass inzwischen nur noch eine zusätzliche Möglichkeit zum Pumpen von Meerwasser in den Reaktordruckbehälter existiert: die Kühlung des Reaktordruckbehälters von außen. Dabei würde Meerwasser in den Sicherheitsbehälter, die zweite Hülle des Reaktorkerns, gepumpt. Das Problem ist, dass dabei große Mengen Dampf entstehen, die abgeführt werden müssen. Ein weiteres Risiko kommt hinzu: Fällt der Reaktorkern aus dem Druckbehälter ins Wasser, dürften sich Dampfexplosionen ereignen, die ebenso zerstörerische Wirkung haben könnten wie Wasserstoffexplosionen. Wenn es aber gelänge, den Reaktordruckbehälter von außen zu kühlen, dann könnten die geschmolzenen Brennelemente eventuell doch noch in ihrem Reaktordruckbehälter gehalten werden. Und das wäre der bestmögliche Fall. Ob das gelingt, wird sich frühestens in zwei oder drei Wochen zeigen.

Wie schützen sich die Arbeiter?

Die Lage für die tapferen etwa 50 Tepco-Mitarbeiter, die seit Tagen eine neunfache Krise zu bewältigen versuchen, wird täglich schlechter. Sie müssen nämlich nicht nur drei Reaktoren in einer Kernschmelze irgendwie kühlen. Sie müssen auch sechs Abklingbecken kühl halten – was offensichtlich im Fall des Reaktors 4 ganz schiefging und in den Fällen der Reaktoren 5 und 6 zumindest nicht gut läuft, denn auch dort sinken die Wasserstände und steigen die Temperaturen. Das größte Problem ist, dass bei den Anlagen in Fukushima Dai-ichi keine Standardsicherheitsanlagen mehr verfügbar sind. Sie sind alle beim Tsunami in Mitleidenschaft gezogen worden oder gänzlich außer Betrieb. Deshalb werden mobile Notstromdieselmotoren betrieben, um unzählige Wasserpumpen – zum Teil profane Feuerwehrpumpen – zu betreiben. Diese Arbeiten können nicht in irgendwelchen Schutzräumen oder automatisiert verrichtet werden, sondern finden draußen und von Hand statt. Die Arbeiter tragen Schutzanzüge, Atemschutzmasken mit Jodfiltern, manchmal auch eine mobile Sauerstoffversorgung mit sich herum. Und dennoch können sie je nachdem, wie hoch die Strahlung gerade ist, nicht allzu lange dort arbeiten. Bei sehr hoher Strahlung, sagen Wissenschaftler, hilft nur noch eines: Abstand. Bei gesundheitsgefährdenden Strahlendosen dürfen sich die Arbeiter diesen nur für ein paar Minuten aussetzen. Das heißt, das Personal muss zum Teil im Minutentakt ausgetauscht werden. Außerdem müssen sie Schutt beiseiteräumen, damit Feuerwehrwagen durchkommen. Sind die Arbeiter im Inneren, agieren sie in Dunkelheit. Ursprünglich arbeiteten einmal knapp 800 Menschen in dem Kraftwerk. Die 50, die jetzt noch versuchen, den Super-GAU zu verhindern, machen das laut Betreiber freiwillig. Sollten diese ihre Arbeit aber einstellen, wäre die Situation vollends außer Kontrolle. Nähere Informationen zu den Arbeitern hat Tepco nicht herausgegeben. Klar ist nur so viel: Fünf Arbeiter sind seit dem Erdbeben gestorben, 22 wurden zum Teil bei den Wasserstoffexplosionen in den Akw verletzt. Und seit Mittwoch sind zwei Tepco-Mitarbeiter vermisst.

Zahl der bestätigten Opfer in Japan bei 5198

Die Zahl der offiziell registrierten Todesopfer nach der Naturkatastrophe in Japan steigt derweil weiter. Binnen weniger Stunden korrigierte die Polizei ihre Angaben noch einmal deutlich nach oben und nannte 5198 Tote, wie der japanische Fernsehsender NHK am Donnerstagmittag (Ortszeit) berichtete. Am Morgen hatte die Zahl der bestätigten Opfer noch bei knapp 4400 gelegen. Mindestens 9000 Menschen gelten zudem noch als vermisst, wie der Sender weiter meldete. (mit dpa)

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false