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Streit um Favela: Drahtseilakt in Rio

Die älteste Favela Brasiliens hat eine Toplage: nah am Zentrum und Aussicht aufs Meer. 2014 kommt die Fußball-WM und 2016 Olympia – nun sorgen eine Seilbahn und Abriss für Ärger.

Es geht in diesem großen Streit um einen kleinen Hügel. Der steht mitten im Zentrum von Rio de Janeiro und ist 115 Meter hoch. Zu zwei Seiten bricht er schroff ab, zu den anderen aber läuft er sanft aus. Sein Rücken ist bedeckt mit dicht an dicht gebauten Häusern. Fragt man die Stadtverwaltung, wie viele Menschen dort leben, erhält man die Antwort: 4889. Realistische Schätzungen gehen von mindestens doppelt so vielen aus. Jahrzehntelang hat sich niemand für sie interessiert. Der Hügel war eine Favela, eine Siedlung ohne Staat, fest in der Hand der Drogenmafia. Nun tobt auf ihm der Streit darüber, wie das Rio der Zukunft aussehen soll. Das der Fußball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016.

Eine „Stadt für alle“ hat der Bürgermeister versprochen. Maurício Hora kann darüber nur lachen. „Rio wird zum Spielplatz für die Reichen und Touristen“, sagt er. „Die Armen und Alteingesessenen müssen gehen.“ Hora blickt einen aus grünen Augen über seine schwarze Brille hinweg an. „Unser Hügel ist klein, aber beispielhaft. Schau dich um!“

Tatsächlich gibt es keinen besseren Ort, um den Wandel zu verfolgen, den Rio zurzeit durchmacht. Der Fels trägt den Namen Morro da Providência – Hügel der Vorsehung. Vor 120 Jahren entstand an seinen Hängen die erste Favela Brasiliens. Ihr bekanntester Einwohner ist Maurício Hora. Fotograf, Künstler, Aktivist und Sohn des ersten Drogenchefs. Manche nennen ihn das Gedächtnis des Hügels.

Der Weg zu Hora führt über Rios Hauptbahnhof. Man kommt mit der Metro an, verlässt die Station über den Nordausgang, schiebt sich an hetzenden Pendlern vorbei, steigt über irre Obdachlose, erschreckt vor zahnlosen Prostituierten und barfüßigen Kids auf Crack. Vor einem Busterminal ragt ein kastenförmiger Betonrohbau in den Himmel. Stahlkabel führen heraus und hinauf auf den Morro da Providência. Gondeln baumeln daran.

Die Seilbahn ist eines der großen Prestigeprojekte des neuen Rios. Sie soll die Providência mit dem Bahnhof verbinden, „den Hügel an den Asphalt anschließen“, wie man hier sagt. Die Fahrt soll eine Minute dauern und für die Anwohner zweimal am Tag gratis sein. Ende Mai soll die Bahn ihre Jungfernfahrt absolvieren. Noch müssen sie sich in einen alten VW-Kombi quetschen. Zwei Reais, 80 Cent, nehmen die Chauffeure für die kurze Fahrt, hinauf und hinab.

Man kann auch laufen. Unter den Kabeln der Seilbahn führt eine schmale Treppe durchs Labyrinth aus unverputzten Häusern. Nach zehn Minuten ist man an der oberen Seilbahnstation angelangt. Rundherum sind Arbeiter mit Fegen, Bohren und Schrauben beschäftigt. Zur ersten Fahrt wird Rios Bürgermeister Eduardo Paes in der Favela erwartet. Er hat den Morro da Providência als „zweiten Zuckerhut“ bezeichnet, die nächste große Attraktion der Stadt. Umgerechnet 30 Millionen Euro hat seine Regierung in die Seilbahn gesteckt. Sie ist ein Element der Revitalisierungspläne für Rios verrottetes Hafenviertel, das sich auf der nördlichen Seite der Providência erstreckt. Auf dem 500 Hektar riesigen Areal sollen mithilfe privater Investoren Museen, Fußgängerzonen, eine Tram, Büro- und Wohntürme entstehen.

„Attraktion – für wen?“ Maurício Hora schaut die Seilbahnstation empor, die mit ihrem Glasdach wie ein Raumschiff inmitten der gammeligen Favela-Häuser wirkt. „120 Jahre haben sie uns ignoriert“, sagt Hora. „Und jetzt kriegen wir das hier geschenkt?!“ Der 44-Jährige ist klein, von rundlicher Gestalt und trägt ein schlabberiges T-Shirt. Anfang der 70er Jahre zog sein Vater unweit von hier die erste Koks-Verkaufsstelle des Viertels auf. Keine zehn Jahre später endete seine Karriere im Knast. Maurício Hora lernte daraus. Er wurde Fotograf und begann, das Leben in der Favela zu dokumentieren.

Warum viele Bewohner wütend sind

Wie im März 2010, als eine Einheit der Elitetruppe Bope anrückte, Türen eintrat, Waffen konfiszierte und den Statthalter des Comando Vermelho vertrieb, Rios mächtigster Drogenmafia. Und wie anschließend 200 Beamte von Rios neugegründeter Friedenspolizei UPP in der Providência stationiert wurden. Sie sollten das Comando Vermelho unter Kontrolle halten. Nachdem die Favela dann für „befriedet“ erklärt wurde, erschien Rios Bürgermeister Paes. Von einer Bühne herab verkündete er den verdutzten Bewohnern den Bau einer Gondelbahn – verbunden mit dem Ratschlag, dass sie lernen müssten, wie man mit Touristen Geld macht. Sie könnten Plätzchen verkaufen und sagen, das Rezept stamme von einer schwarzen Großmutter, die noch Sklavin gewesen sei. Die Gringos würden auf solche Storys abfahren.

Für die Seilbahnstation, so Paes, müsse allerdings der Praça Américo Brum abgerissen werden. Der Platz war der einzige Treffpunkt der Gemeinde. „Sie kamen nicht, um mit uns zu reden“, sagt Hora, „sie präsentierten ihre Vorstellungen von unserem Leben“. Man könnte auch sagen, dass es in Rio ein gewaltiges Missverständnis zwischen unten und oben gibt.

Was die einen wollen, ist selten das, was die anderen brauchen.

Nur eine Woche nach dem Besuch fand Maurício Hora an der Mauer seines Fotostudios eine Nummer. Sie war mit blauer Farbe aufgesprüht worden. Dazu das Kürzel SMH: Secretaria Municipal de Habitação, Rios Verwaltung für Bauen und Wohnen. An hunderten anderen Häusern prangten ähnliche Nummern. SMH 1725, SMH 1738, SMH 1740. Viele Einwohner, die spät von der Arbeit nach Hause kamen, fragten ihre Kinder, was das zu bedeuten habe. Diese erzählten von Männern, die gesagt hätten, dass die markierten Häuser abgerissen würden. Der Morro da Providência war in Aufruhr. Viele Bewohner leben in der dritten oder vierten Generation hier und sind heilfroh darüber, in der Nähe der reichen Südzone zu wohnen. Dort arbeiten sie als Verkäufer, Putzfrauen oder Autowäscher. Niemand will in die Zona Norte ziehen, wo die Mehrzahl von Rios Armen lebt, zwei bis drei Stunden entfernt.

Insgesamt 671 Häuser hatte die Stadt markiert, etwa ein Drittel. 291 sollten der Seilbahn, einer Zahnradbahn und neuen Wegschneisen weichen. 380 aber stünden laut Verwaltung in „Risikozonen“, seien etwa von Erdrutschen bedroht. Bald kamen Unterhändler in die Providência und boten den Betroffenen neue Wohnungen in der Nähe an. Bis diese fertig seien, müssten sie woanders unterkommen, erhielten aber umgerechnet 155 Euro Mietzuschuss. 196 Familien sind seitdem aus der Providência fortgegangen. Die neuen Wohnungen sind bis heute nicht fertig.

Andere weigern sich zu gehen. Am Haus von Cosme Felippsen liest man „SMH 1646“. Der 23-Jährige ist in der Providência groß geworden, seine Großmutter zog auf den Hügel. Felippsen hat ein rundes Gesicht und warme, braune Augen. Sein Blick überrascht bei dem, was er durchgemacht hat. Vor fünf Jahren starb seine Mutter an Krebs, seinen Vater, einen flüchtigen Bankräuber, hat er nie kennengelernt. Sein kleiner Bruder wurde 2011 von der Polizei in einem Schusswechsel getötet – er dealte für das Comando Vermelho. Favela-Schicksale. Felippsens Haus hat drei Zimmer, er hat sie verputzt und gestrichen. Doch er wohnt alleine darin, weil seine Frau ihn mit den beiden Kindern verlassen hat. „Auch junge Menschen leben sich auseinander“, sagt er. Nun arbeitet Felippsen für die Musikschule seiner methodistischen Kirche und macht Werbung für deren kostenlosen Unterricht.

Jeden Donnerstag geht Felippsen zum Gemeindeforum im Hafenviertel. Dort treffen sich die Aktivisten verschiedener NGOs mit den Bewohnern der Providência. Obwohl bei den Treffen fast nur die weißen Aktivisten palavern, ist Felippsen dabei. Er will sich über die neuesten Entwicklungen informieren. Sein Haus steht an dem Hang, auf dem ein Sportplatz gebaut werden soll. Er sagt: „Mich kriegen die hier nicht weg.“ Er will aber auch nicht falsch verstanden werden: „Ich bin nicht gegen die Urbanisierung. Aber warum fragt man uns nicht, was wir brauchen: Müllentsorgung, Abwasserrohre, Ärzte.“

Wie Felippsen weigern sich 475 Familien zu gehen. Schräg gegenüber der Seilbahnstation steht ein vierstöckiges Haus, um das herum alles weggerissen wurde. Nun verstellt es die Aussicht. In dem Gebäude halten zwei schwarze Frauen mit ihren Familien aus. Marcia und Luciana lassen ausrichten, dass sie erschöpft seien. Sie hätten in den letzten Monaten viel mit Soziologen und Reportern gesprochen. Irgendwann sei Schluss. Zuletzt erhielten sie Drohungen. „Dahinter stecken Bewohner, die den Umbau unterstützen“, glaubt Maurício Hora. Tatsächlich sagen viele Leute in der Favela, dass sie neugierig darauf seien, was die Seilbahn ihnen bringen werde.

Maurício Hora steigt eine steile Treppe empor und gelangt nach 175 Stufen auf einen Platz, an dessen Kopf eine verrammelte Kirche steht. Davor tollen Kinder durch Müll und Hundekot. Im Schatten eines Baumes sitzen tätowierte Jugendliche und spielen Dame. Sie werden von zwei Polizisten in schusssicheren Westen beobachtet. Die Beamten gehören zur Friedenspolizei UPP, einer 2008 gegründeten Einheit, die in den Favelas die Präsenz des Staates anzeigen und den Gebrauch von Waffen unterbinden soll. Darin ist sie relativ erfolgreich. „Früher war dies die meistfrequentierte Drogenverkaufsstelle Rios“, sagt Hora. „Und die gefährlichste. Die Polizei ballerte jeden Tag von unten herauf. Ohne Rücksicht auf die Anwohner.“ Das ist jetzt vorbei. „Die UPP schützt uns vor der Polizei.“

Gegenüber den Damespielern steht ein gelbes Haus. Es ist Horas Studio, hier stellt er seine Fotos aus und gibt Workshops. Er kaufte das Gebäude 2009 für 25 000 Reais, umgerechnet fast 10 000 Euro. Nachdem die Stadt es besprüht hatte, bot sie ihm 67 000 Reais an, hier sollte die geplante Zahnradbahn entlangführen. Statt das Angebot zu akzeptieren, veröffentlichte Hora einen Artikel in der „New York Times“. Überschrift: „Rio zerstört seine Vergangenheit im Namen der Zukunft.“ Im Rathaus war man entsetzt – und verlegte die Bahnstrecke. Hora sagt: „Die regen sich nur, wenn Kritik von außen kommt.“

Der Chef von Rios Bauverwaltung sagt, er kenne Hora nicht. Pierre Batista ist verantwortlich für die Behausungen von 6,5 Millionen Menschen, 1,4 Millionen davon in Favelas. Im Flur vor seinem Büro warten Hunderte darauf, mit einem Beamten zu sprechen: Umsiedlung, Mietzuschuss, Risikozone. Batista misst fast zwei Meter, hat blonde Haare und einen zupackenden Handschlag, er trägt Jeans und ein hellblaues Hemd. Er sagt: „Es ist eine Minderheit, die Widerstand leistet. Aber das ist normal, wenn Veränderungen anstehen.“ Der Blick aus Batistas Büro geht auf die Christus-Statue, die ihre Arme über Rio ausbreitet. Batista gehört der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT an, und er hat ein sehr sozialdemokratisches Ziel: Bis 2020 will er alle Favelas in Rio urbanisieren, sie an den Asphalt anschließen. Drei Milliarden Euro soll das kosten. Zu den Bewohnern, die nicht aus der Providência wegziehen wollen, sagt er: „Das Interesse der Mehrheit geht vor.“ Falls sich einzelne Familien dauerhaft weigern und alle Entschädigungsangebote ablehnen, könnten Zwangsräumungen nötig werden. Denn bis jetzt wurde erst die Seilbahn verwirklicht – die neuen Wegschneisen und die Zahnradbahn stehen noch aus.

Woher der Name Favela kommt

Der Morro da Providência entstand 1893. Damals hatte das Rathaus die „Operation Sauberkeit“ angeordnet: Hunderte Baracken im Zentrum Rios wurden niedergerissen, ihre armen und schwarzen Bewohner würden schon verschwinden, so kalkulierte man. Doch sie gingen nicht fort, sondern zogen auf die unbewohnten Hügel der Stadt. Es war der Beginn der Teilung Rios in arme Hanglagen und eine wohlhabendere Fläche. Sie erlebte ihren zweiten Schub, als 1897 tausende Veteranen aus dem Krieg gegen die Aufständischen der Stadt Canudos im fernen Bahia nach Rio kamen. Die Stadt war damals Regierungssitz, die Politiker hatten den Soldaten Land versprochen. Als dieses nicht ausgewiesen wurde, zogen die Soldaten auf den Hügel hinter dem Kriegsministerium und nannten ihn Favela. So hatte der Berg in Canudos geheißen, den sie versucht hatten zu stürmen. Er war mit dem Favela-Busch bewachsen, einer giftigen Pflanze.

Nun wiederholt sich die Geschichte. Mit umgekehrten Vorzeichen. Die Mächtigen drängen auf die Hügel, die Armen sollen in die Ebene ziehen. Es ist der Krieg um die besten Plätze im neuen Rio.

Als man einige Tage später erneut auf den Morro da Providência steigt, wird man von Halbwüchsigen mit nackten Oberkörpern gestoppt. Einer zieht eine Pistole: „Rucksackkontrolle!“ Nach kurzer Revision erhält man von den Drogendealern die Anweisung: „Von uns keine Fotos!“

Der UPP-Kommandant in der Providência wird sagen: „Die Situation ist unter Kontrolle.“ Der Künstler Maurício Hora sagt: „Vieles am neuen Rio ist nur schöner Schein“. „Vor uns liegt ein weiter Weg“, sagt Pierre Batista, der Chef der Bauverwaltung. Und die Dealer? Sie sagen: „Bau keinen Mist.“ 20 Meter hinter ihnen starten die Gondeln zur ersten Probefahrt.

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